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Karlovy Vary 2025 – 120 000 Vermisste des kolumbianischen Bürgerkrieges appellieren an die mögliche Einheit der Nation

In seinem komplexen filmischen Essay in Form eines seines hybriden Dokumentarfilmes kehrt der kolumbianische Regisseur Federico Atehortúa Arteaga erneut zurück zur Interferenz zwischen Kolumbiens politischen Geschichte und des Filmmediums. Bereist in Pirotecnia (auch: Mute Fire) (2019) verfolge er die Entstehung einer nationalen kollektiven Identität durch mediale Mitteln seit den Anfängen des letzten Jahrhunderts. Dort thematisiert er ebenso den Gebrauch von gefälschten Bildern, die von der Armee getötete Jugendliche als Guerillakämpfer verkleidet zeigen, um einen scheinbaren Sieg im bewaffneten Konflikt vorzutäuschen. Im aktuellen in Karlovy Varys Internationalen Film Festival im Proxima Wettbewerb gezeigten Werk Forensics (Forenses) wird die Geschichte Kolumbiens erneut erzählt, diesmal fokussiert auf die etwa 120 000 Vermissten, Opfer zumeist des zivilen Krieges zwischen der Armee und den FARC.

Forensics von Federico Atehortúa Arteaga
Bild mit freundlicher Genehmigung Karlovy Vary IFF

Auf gleichzeitig drei Ebenen nähert sich der Filmemacher diesem Thema an. Sein dominanter Off-Kommentar leitet durch einen Mix von Dokumentarsequenzen, Interviews sowie offiziellen wie privaten Archivbildern.

Auf einer ersten Ebene finden wir die wissenschaftlichen und historischen Kommentare der forensischen Forscherin Karen Quintero. Ihre mühsame Suche nach Vermissten, die auf abgesteckten Feldern zu Hunderten Grabungen führt, ist geleitet durch Satelliten- und Radarbilder, als auch durch historische Fotografien, individuelle Erinnerungen und ehemaligen TV News. Ursprünglich ohne investigative oder juristischen Motive entstanden, werden sie nun zu wichtigen Hinweisen, und Spuren das Schicksal der Vermissten zu verfolgen und im glücklichsten Fall ihre Körper zu finden und zu identifizieren. Solche Funde sind für die Hinterbliebenen der Vermissten, deren Leben in Zweifeln, Ängsten und Hoffnungen dahinfliessenden, eine Befreiung. Nicht nur, wie Karen Quintero betont, um einen Trauerarbeit ermöglichenden Körper in einem Grab zu haben, sondern auch, um die Umstände, die möglichen Mörder und die Art des Todes zu erfahren. Diese nur mühsam voranschreitende Handausgrabungen müssten, selbst wenn man optimistisch davon ausginge, täglich drei Körper zu finden und zu identifizieren, noch ein Jahrhundert lang weiter geführt werden, wolle man sie wirklich abschliessen.

Möglich wurde dieses Forschungsprojekt, genannt „Search Unit“, erst nach dem Friedensschluss zwischen der Regierung und der FARC unter Bedingungen gewährter Amnestie im Jahr 2018. Zum ersten Mal wurde die Suche nach vermissten Personen zum nationalen Projekt der Rekonstruierung einer gemeinsamen Identität und Geschichte.

Auf einer zweiten Ebene berichtet Federico Atehortúa Arteaga von seiner eigenen Familiengeschichte. Auch hier verschwand der Bruder seiner Mutter unter nie geklärten Umständen. Doch anders als nach den genauen Umständen zu forschen, konfrontierte sich seine Familie mit dem Trauma durch fiktive Erklärungen, die ein willentlich selbstbestimmten Verschwinden vorgeben. Diese Geschichten variierten von einer Flucht mit einer Geliebten hin zu Karriereoptionen im Ausland oder seinem Einstieg in Drogen- und Waffengeschäfte. Jede dieser Annahmen war leichter zu ertragen, als sich der Möglichkeit seines Todes zu stellen.

Die dritte narrative Ebene beginnt wiederum mit der direkten Konfrontation mit dem gemarterten und ermordeten Körper einer nicht identifizierten Transvestitin. Die Filmemacherin Katarina Angel begleitet, zufällig mit diesem Mordopfer konfrontiert, die Tote auf ihrem letzten Weg ins Krankenhaus. Um in irgendeiner Weise sie nicht ganz dem Tod zu überlassen, erfindet Angel eine Rolle für sie in ihrem Film The Dance of the  Angels. Dort erhält sie einen Eigennamen und wird Teil der Guerillabewegung im Dschungelkampf. Doch auch dieser Film blieb unvollendet. Selbst der bereits realisierte Teil verschwand. Nur sehr sporadisch tauchten noch Bruchstücke auf.

Doch selbst diese drei sich im Film sich durchdringenden Ebenen, die bereits ein hinreichend komplexes Panorama erstellen, werden noch einmal vom Filmemacher gedopt durch weitere einfliessende Themen, wie die Rolle der bebilderten Kartographie für die Genese eines kolumbianischen Territoriums, oder durch die Frage, wie eine Utopie auf einer solchen Karte zu verzeichnen sei. Mehr als das zeigt Federico Atehortúa Arteaga frühes historisches Filmmaterial, das die Auferstehung Jesus zum Thema hat. Für ihn beginnt mit dieser Suche nach dem vermissten Körper die forensische Forschung. Ebenso wie das Verschwinden des Körpers Christi erst seine religiöse Bedeutung schafft, stiften die Körper der Vermissten erst die Bedeutung eines spezifischen Territoriums, welches gegen die Bedrohung der Desintegration durch drei Zivilkriege zu schützen bereits die historische Funktion der frühen,1850 einsetzenden, Kartografie war 1850 einsetzte.

Forensics von Federico Atehortúa Arteaga
Bild mit freundlicher Genehmigung Karlovy Vary IFF

Eine weitere Parallele zieht Federico Atehortúa Arteaga auch zur Instrumentalisierung des letzten zivilen Krieges zwischen der Armee und den FARC als ein konsumierbares Medienereignis, das für die TV-Zuschauer erst eine imaginäre Nation entstehen liessen. Ebenso konstituierte die Suche nach den dort täglich durch Fotos repräsentierten Vermissten wiederum erst ein gemeinsames geografisches Territorium.

Auch wenn man nicht allen Thesen und Parallelen Federico Atehortúa Arteaga folgen mag oder kann und seine Auslassungen bedauert, wie etwa die dominante Motivation des Kampfes für soziale Gerechtigkeit der FARC, bleibt seine komplexe Verflechtung zwischen medialer und faktischer Realität, Geschichtskonstruktion und suggestiver Installation von imaginären Entitäten ein herausforderndes Denkangebot.
Zu betonen ist seine Herausarbeitung der Doppelfunktion des Mediums Films, einerseits medialer Propaganda zu dienen, andererseits ein starker Akt des Widerstandes gegen das Verschwinden zu sein. Auch seine Linienziehung zwischen einer bebilderten Kartografie als Grundlage der Erstellung eines territorialen Körpers und im weiteren Schritt der Generierung einer imaginären, nationalen Identität überrascht und überzeugt.

Dass die Kreation Kolumbiens und die Identifizierung der Vermissten die gleiche Funktion erfüllen, scheint etwas verkürzt. Unbestritten aber ist, dass die Suche nach den Vermissten bereits die berechtigte Angst und den Terror seitens derer, die Fragen vermeiden wollen, überwindet und ein fundamentaler Schritt zur Regenerierung einer eigenen und kollektiven Identität ist.

Von Federico Atehortúa Arteaga; Kolumbien; 2025; 91 Minuten.

Dieter Wieczorek, Karlovy Vary

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Dieter Wieczorek

Journaliste/Journalist (basé/based Paris-Berlin)

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