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achtung berlin Filmfestival 2024 – Ein Festival für den filmischen Nachwuchs

Grundvoraussetzung, um im Festival zu laufen, ist wie seit dem Beginn vor 20 Jahren, dass ein Film in Berlin oder Brandenburg gedreht wurde oder eine Produktionsfirma oder der Regisseur aus Berlin oder Brandenburg stammen. Die Retrospektive beinhaltete dieses Jahr Filme, die ums Wohnen und häufig auch Gentrifizierung kreiste. Zum Jubiläumsjahr gab es zusätzlich Filme aus den letzten 20 Jahren, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. In den Hauptprogrammen wurden, auch wie immer, hauptsächlich Filme gezeigt, die vorher bereits in Hof, München, Saarbrücken oder Leipzig gezeigt wurden. Leider auch wie immer, wurden einige der besten Filme bei der Preisverleihung übergangen.

Im Spielfilmwettbewerb gab es einiges an richtig guten Filmen zu entdecken. Jenseits der blauen Grenze von Sarah Neumann erzählt die Geschichte von Hanna (Lena Urzendowsky), einer talentierten Schwimmerin Ende der 80er Jahre in der DDR. Ihr Ziel ist es, zur Olympiade zu kommen. Dafür würde sie fast alles tun, nur nicht die Beziehung zu ihrem besten Freund Andreas (Willi Geitmann) aufgeben. Der ist unangepasst und sagt, wenn ihm am Staat etwas nicht passt. Er wird zur Umerziehung auf einen Werkhof geschickt. Als er entlassen wird, hat er seinen Entschluss gefasst: Er will aus der DDR fliehen. Einziger Weg scheint Schwimmen über die Ostsee. Doch er ist ein schlechter Schwimmer. Hanna trainiert mit ihm, aber geht dann mit, um ihn nicht dem sicheren Tod zu überlassen. Der Film ist stark gespielt mit viel Zeitkolorit aus der DDR und für ein grosses Publikum geeignet. Hoffentlich wird er noch einen Verleih finden, einen Preis bekam er unverständlicherweise nicht.

Jenseits der Blauen Grenze von Sarah Neumann
© Jakob Fliedner/Wood Water Films

In Rohbau von Tuna Kaptan stirbt ein illegaler Schwarzarbeiter auf einer Luxusbaustelle bei einem Unfall bei Nacht. Lutz (Peter Schneider) ist Bauleiter, der die Illegalen engagiert hat, um Kosten zu sparen und vor seinen Vorgesetzten gut dazustehen. Schliesslich will er Karriere machen und Chef der nächsten Baustelle werden. Also vertuscht er den Unfall und denkt, das Problem sei gelöst. Doch genau beim Investorentreffen am nächsten Tag, taucht die 14-jährige Irsa (Andjela Prenci) auf, die ihren Vater sucht und Fragen stellt. Um sie loszuwerden, behauptet er, der tote Vater hat nicht bei ihm gearbeitet und schickt sie auf andere Baustellen. Doch sie kommt immer wieder. Er tut so, als ob er ihr helfen will, lässt sie sogar in einem Vorführapartment schlafen. Dann bringt er sie zur Grenze, doch sein schlechtes Gewissen gewinnt und er fährt sie nach Hause in Albanien. Wahrscheinlich sei der Vater längst wieder zu Hause. Ein starker Film mit einer Hauptdarstellerin, die ein grosses Talent ist. Ob sie Schauspielerin bleibt, ist noch fraglich, sie studiert zurzeit. Eine gute Variante der klassischen Schuld und Sühne-Dramas.

Schauspieler Robert Gwisdek hätte mit seinem Langfilmregiedebüt Der Junge, dem die Welt gehört, einen Drehbuchpreis für sein schräges Drehbuch und die originelle Inszenierung verdient gehabt. Basilio (Julian Vincenzo Faber) ist Musiker und arbeitet an einem Musikstück für die Ewigkeit. Bei ihm ist ein seltsamer alter Mann (Frankreichs Star für merkwürdige Rollen Denis Lavant), der ihn antreibt, die wahre Poesie zu finden. Doch dann lernt er Karla (Chiara Höflich) kennen, die auf seltsame Weise mit ihm verbunden scheint. Dies verändert alles. Und auch seine Mutter (Gwisdeks echte Mutter Corinna Harfouch) hat immer mysteriösere Auftritte. Sind alle Personen wirklich echt oder Geister, die in Basilios Kopf hausen? Ein interessant-verästelter Film in Schwarz/Weiss mit schrägen Typen, der allen, die Ungewöhnliches lieben gefallen wird.

Hauptgewinner des Festivals wurde Arthur und Diana der Französin Sara Summa, der von der DFFB produziert wurde. Die zeigt hier ein Roadmovie, das sie vor allem mit eigenen Familienmitgliedern besetzte. So spielt sie Diana, ihr Bruder Robin ihren Bruder Arthur und ihr zweijähriger Sohn ihren Sohn. Eigentlich wollen sie nur die Zulassung für ihren in klapprigen Renault in Paris verlängern lassen. Deshalb fahren sie bald von Berlin los, aber es wird ein Roadtrip mit vielen Begegnungen und Umwegen, der schliesslich über Italien zurück nach Berlin führt. Das ist unterhaltsam und ganz sympathisch, aber war das wirklich der beste Film?

Good News von Hannes Schilling gewann zwei Preise: der Regisseur für Regie und der starke Nebendarsteller Sabree Matming aus Thailand einen der beiden Darstellerpreise. Der Film folgt Leo (Ilja Stahl), einem Journalisten, dem das Leben in Deutschland zu klein wird und der endlich als Journalist berühmt werden will. Dafür fährt er nach Thailand, um dort eine geheime Rebellengruppe zu interviewen, die eigentlich keine Interviews gibt. Hilfe sucht er dabei bei Mawar (Sabree Matming), einem einheimischen Koch, der nach Deutschland auswandern und ein Restaurant eröffnen will. Da nichts klappt, schreibt er einen Artikel mit einem erfundenen Interview. Doch als die Zeitung einen Fotografen schickt, läuft alles aus dem Ruder. Ein 75-minütiger Film über Ehrlichkeit und skrupelloses Verhalten bei der Presse. Der Regisseur kam auf die Idee zum Film durch einen auf Tatsachen basierenden Fall.

Drei Preise bekam Und das man ohne Täuschung zu leben vermag von Katharina Lüdin. Die Regisseurin bekam den Preis für ihr Drehbuch, Schauspieler Godehard Giese für seine Nebenrolle und Anselm Belser den Preis für die beste Kamera. Merit (Jenny Schily) ist Schauspielerin und probt mit ihrem Ex-Mann David (Godehard Giese) ein neues Theaterstück. Sie lebt seit langem mit Eva (Anna Bolk) in einer lesbischen Beziehung. Doch die Luft ist raus und sie wird immer öfter gewalttätig gegenüber Eva. Auch David hat sich gerade getrennt und will wieder etwas von Merit.
Ein sehr ruhiger, langsamer Film, bei dem man die körperliche Gewalt nie wirklich sieht, aber spürt, dass es sie gibt. Die Schauspieler glänzen vor allem mit Gesten oder auch mal mit einem Tanz. Ein Film auf den man sich einlassen muss, um ihn wirklich gut zu finden. Aber wenn man dies tut, wird man beim Zusehen belohnt. Und wann gibt es schon mal einen Film, bei dem Gewalt in lesbischen Beziehungen thematisiert wird ?

Im Dokumentarfilmwettbewerb wurde For the Time Being von Nele Dehnenkamp als bester Film ausgezeichnet. Michelle heiratete ihren einstigen Jugendfreund Jermaine. Der sitzt verurteilt zu 22 Jahren bis lebenslänglich wegen Mordes im berüchtigten Gefängnis Sing Sing bei New York. Sie versucht, seine Unschuld zu beweisen. Der Film folgt ihr über viele Jahre bei ihrem Kampf, dem häuslichen Leben mit ihren zwei Kindern, beim Briefeschreiben, Gefängnisbesuchen und zeigt ihre ständige Hoffnung auf seine Haftentlassung und ein Leben als normale Familie. Michelle und ihre Kinder, die ihr Abitur machen und sie schliesslich verlassen, sind sympathisch und man hofft mit, dass es ein Happy End geben wird. Eine ungewöhnliche Langzeitbeobachtung.

For the Time Being von Nele Dehnenkamp
© Nele Dehnenkamp

In Hausnummer Null folgt Lilith Kugler zwei obdachlosen Drogenabhängigen. Chris und Alex leben an einer S-Bahn-Station in Berlin. Der Film zeigt die beiden Männer, wie sie zwar von einem normalen Leben träumen, aber trotzdem im Teufelskreis gefangen bleiben. Als Chris in eine Rettungsstelle gebracht werden muss und fast stirbt, beschliesst er doch eine Entziehung zu machen und endlich nur noch von Substituten abhängig zu sein. Auch bekommt er ein Zimmer in einem Wohnheim, doch dort ist er kaum. 6 Jahre Leben auf der Strasse machen sich bemerkbar. Eine interessante Beobachtung über Jahre.

Insgesamt gab es bei den Dokumentarfilmen eine grosse Bandbreite: das Leben von Flüchtlingen in Spanien, Freiheitskämpfer in Kolumbien, Flüchtlingstourismus in Mexiko, ADHS-Beobachtungen in der Schweiz, Breakdancer bei Wettbewerben, aber auch Schwulenleben in Berlin, Hungerstreiks gegen Klimawandel oder das Scheitern von Utopien im Berlin der letzten Jahre.

In den Rahmenprogrammreihen Special und Spotlight stach vor allem ein Film heraus, der schon bei der Berlinale zu sehen war: Ellbogen von Asli Özarslan. Der Film basiert auf dem Erfolgsroman von Fatma Aydemir und erzählt die Geschichte von Hazel (Melia Kara). Sie möchte nur ein normales Leben. Keiner möchte sie einstellen, nicht mal im Pflegeberuf hat sie eine Chance, obwohl Mangel herrscht. Sie bekommt nur Bildungsmassnahmen vom Jobcenter, das sie auch immer gängelt. Als sie an ihrem 18. Geburtstag mit ihren Freundinnen nicht in einen Club gelassen wird, kommt es zur Katastrophe. Als in der U-Bahn-Station ein junger Mann die drei Mädchen anmacht, kommt es zum Gerangel und die Mädchen treten zu. Der Frust über ihre Situation führt zur harten Entladung und Überreaktion. Hazel stösst ihn weg auf die Gleise, mit Todesfolge und gefilmt von einer Überwachungskamera. Sie flieht nach Istanbul, muss aber bald erkennen, dass dort auch alles nicht ist wie gewünscht. Auch hier gibt ihr keiner einen Job, ihr Freund ist Drogenabhängiger und die Polizei brutal und rigoros. Ein Film mit offenem Ende, der die Abstiegsspirale anhand eines normalen, sympathischen Mädchens zeigt. Mit einer sehr guten Hauptdarstellerin. Der Film kommt im Herbst ins Kino.

Harald Ringel

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