Berlinale 2025 – Wettbewerb: Die subtile Stärke eines Suchenden – Ari von Léonor Serraille
Ari ist ein 27 Jahre alter Mann, der sich immer noch die gleichen Fragen in aller Radikalität stellt, die viele – wenn überhaupt je gedacht – bereits kurz nach ihrer Kindheit hinter sich lassen, indem sie die üblichen Lebensstandartmodelle akzeptieren: Familie und Aufbau von Konsumeigentum. Ari, so auch der Filmtitel, dagegen, geschult in Literatur und Wissenschaft, fragt weiter: warum und wofür leben wir, was ist sinnvoll noch zu tun in aller Welt, in der bereits alle Parameter aufkommende Katastrophen indizieren. Die französische Regisseurin Léonor Serraile begleitet den sensiblen jungen Mann (hervorragend: Andranic Manet), assistiert von der beeindruckend intimen Kameraführung Sébastien Buchmann, mit empathischer Einfühlsamkeit auf seinen Wegen. Ihr Film ist Teil des internationalen Wettbewerbs der 75. Berlinale.
© Geko Films – Blue Monday Productions – ARTE France – PICTANOVO – Wrong Men – 2025
Der junge Mann versagt als Grundschullehrer zunächst, als er Kindern Robert Desnos’ Gedicht L’Hippocampe nahe bringen will, doch sich schnell verliert in kulturgeschichtliche und wissenschaftliche Zusammenhänge, denen die Kinder schlicht nicht folgen könnten. Er bricht im Klassenzimmer zusammen und ist in Konsequenz nahe daran, seinen Job zu kündigen. Zunächst in Zwangsurlaub geschickt, setzt ihn sein Vater als Versager auf die Strasse. Von da an zieht er zu verschiedenen Freunden, die auf höchst unterschiedliche Weise auf die Frage nach dem Lebenssinn reagiert haben. Durch seine direkte und delikat provokante Art, Fragen zu stellen, die alles in Frage stellen, erinnert er an Protagonisten Robert Walsers. Oftmals lässt er bürgerliche Fassaden implodieren. Doch vor einer radikalen, depressiven Hoffnungslosigkeit, auf die er auch stösst, ist er geschützt. Er liebt das Leben und vor allem Kinder, die letzten normalen Wesen für ihn.
Der Film beobachtet subtil verschiedenste Deutungen von Alltagssituationen. Léonor Serraille, gewiss geprägt von ihren Eltern, eine Theaterschauspielerin und ein Pädagoge, der in seiner Freizeit Gedichte verfasste, sagt von sich selbst, als Kind unfähig gewesen zu sein, sich zu projizieren. Dies erlaubt ihr, diesen suchenden Mann, der keine gängigen Identifikationen zu akzeptieren bereit ist, kongenial zu begleiten. Die Fragilität von Freundes- und Familienbeziehunge, war schon in ihrem 2022 in Cannes’ Wettbewerb uraufgeführten Film Ein kleiner Bruder (Mother and Son) Thema.
Das Ende des jetzigen Werkes ist überraschend versöhnlich. Ari lebt nun in scheinbar angenehmen Umständen in einer lichtdurchfluteten Wohnung, sein Vater erscheint und bittet um Verzeihung, doch weit mehr als das, er erfährt, Vater einer Tochter zu sein. Diese neue Herausforderung nimmt er mit grosser Aufmerksamkeit wahr, eine Rolle, die ihm schon deshalb leicht fällt, da seine eigene Verspieltheit nach wie vor intakt ist. Léonor Serraille bringt einen Film nach Berlin, der durch seine subtile in Szene Setzung der Stärke einer marginalen Existenz seine (Nach-) Wirkung entfaltet.
Von Léonor Serraille; Frankreich, Belgien; 2025; 88 Minuten.
Dieter Wieczorek, Berlin
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