Filmfestival Mestia zeugt von Georgiens Kampf um einen Platz auf der Filmlandkarte
Nutsa Gogoberidze gehörte zu den Pionieren der Filmkunst in Georgien. Die 1903 geborene Regisseurin arbeitete mit Sergej Eisenstein und Alexander Dowschenko. 1934 war sie die erste Frau, die einen Spielfilm in der Sowjetunion inszenierte. Bevor Uzhmuri herauskam, bewies sie ihr Talent in kurzen Dokumentarfilmen wie Duda, der vom Georgischen Filmarchiv 2018 aufwändig digital restauriert wurde. Der Film führt nach Swanetien, eine einst von der Welt abgeschnittene und noch heute nur über eine holprige Strasse erreichbare Gebirgsregion des Kaukasus an der Grenze zu Russland.
Gogoberidze Film ist vor allem am Ende von der Aufbruchstimmung in den intellektuellen Kreisen der damaligen Sowjetunion geprägt. Die Elektrifizierung und die Eisenbahn, so die Hoffnung, werden das archaische Leben in den Dörfern erleichtern und verändern. Während sich die Männer als Flösser und Zimmerleute in der Umgebung verdingen, liegt die Verantwortung für Aussaat und Ernte bei den Frauen und ihren Kindern. Schon die Kleinsten helfen auf den Feldern und pflücken Kräuter und Beeren. Doch dann vernichtet ein Erdrutsch die Ernte auf den Feldern. Eine Hungersnot droht.
Kinosterben nach der Unabhängigkeit und nach Corona
Die Eisenbahn nach Swanetien wurde nie gebaut, doch Elektrizität und Strassen haben das Leben verändert. Das Kino in der Gemeinde Mestia ist allerdings seit Jahren geschlossen. Nach 1991 hatte es wie die Mehrzahl der einst hoch subventionierten Häuser keine wirtschaftliche Perspektive. Bis heute hat sich die Filmtheaterlandschaft Georgiens von dem Aderlass nicht erholt – selbst im Zentrum von Tiblissi ist ein Mehrsälehaus geschlossen. Von seinem einstigen Glanz zeugen nur die Sterne des georgischen Walk of Fame auf der Strasse vor der mehrflügligen Eingangstür.
Mestia Filmfestival mit Kurz- und Bergfilmen
Die verbliebenen Filmtheater und neu entstandenen Multiplexe spielen Hollywood-Blockbuster, die überall auf der Welt erfolgreich laufen. Für ein Gegengewicht will Chatuna Khundadze sorgen. Vor drei Jahren gründete sie das Kurz- und Bergfilmfestival in Mestia, einer aufstrebenden Gemeinde Swanetiens, die längst zum Geheimtipp unter Wander- und Bergsteigerenthusiasten wurde. Khundadzes Optimismus zahlte sich aus. Eine Woche vor dem Start der ersten Ausgabe wurden 2021 die letzten Corona-Schutzmassnahmen in Georgien aufgehoben. Das Festival wurde das erste grosse kulturelle Event und zum Treffpunkt der Filmszene und des Publikums nach Monaten des Stillstands.
In diesem Jahr wählte sie 25 Kurz- und Langfilme aus aller Welt für den Wettbewerb aus. Während die kurzen Streifen ein breites Themenspektrum boten, muss die Handlung der langen Werke in die Berge führen. Acht Filme zum Thema fand Chatuna Khundadze in diesem Jahr, fünf wurden im stets gut gefällten Saal des Kulturzentrums von Mestia gezeigt.
Hauptpreise nach Peru und in die Slowakei
Die Jury unter Leitung von Prof. Martin Rennert, langjähriger Präsident der UdK in Berlin und jetzt Chairman der Einstein-Stiftung, vergab den Grand Prix einstimmig nach Peru an Mauricio Franco Tasso für seinen schwarzweiss-Film Samichay, in Search of Happiness. Sein Drama um das Schicksal eines Bauern, der seine von Nebel umwaberte Hütte in den Anden verlassen muss, ist ein beeindruckendes Gleichnis über den Untergang traditioneller Lebensweisen.
Die Kameraarbeit von Pavol Barabáš, Štefan Koreň,Ján Kořínek und Marek Trávniček überzeugte die Jury auch in Mountain Guides des Slowaken Pavol Barabás. Sie fangen überwältigende Bilder von der Arbeit der Tourguides in der Hohen Tatra ein, die Bergsteiger aus aller Welt auf die bizarr geformten Bergspitzen führen. Jeder Handgriff muss sitzen, wenn sie Steigeisen einhauen und Seile befestigen, an denen das Leben ihrer Kunden und ihr eigenes hängt. Die imposanten Bilder und Interviews mit den Bergführern bettet der Regisseur in einen Rückblick auf 150 Jahre Tourismus in dem Hochgebirge ein.
Koproduktionspartner dringend gesucht
Abgerundet wurde das Programm durch mehrere georgische Kurz- und Langfilme. Zur Eröffnung lief Drawing Lots von Zaza Khalvashi und Tamta Khalvashi. Sie führen in eine Hausgemeinschaft in einem der alten Häuser der sich rasant verändernden Küstenmetropole Batumi. Auf dem Hof spielt sich das Leben ab, jeder weiss, was beim Nachbarn vorgeht – egal ob Ehedramen nach Seitensprüngen drohen, eine junge Frau mit ihrem Lover durchbrennt oder ein Teenager sich vom Dach stürzen will, weil eine ältere Schönheit seine Gefühle nicht erwidert.
Der Film wurde von der Litauerin Leva Norviliene koproduziert. Die georgische Filmbranche sei auf die Zusammenarbeit mit reicheren Ländern angewiesen, liess Chatuna Khundadze durchblicken. Das Budget des georgischen Filmzentrums sei knapp bemessen. Fünf Filme werden im Schnitt im Jahr in Georgien begonnen. Im Moment warteten viele Filme auf ihre Fertigstellung, weil die Produzenten die restliche Finanzierung nicht stemmen können. Die Situation werde auch nicht besser – nach dem verheerenden Erdrutsch im Juli wurde das Budget für die Filmproduktion nochmals gekürzt. Trotzdem lässt sich Khundadze nicht entmutigen. Noch in diesem Jahr plant sie den ersten Jahrgang eines Frauenfilmfestivals.
Image des Landes selbst bestimmen
Die Georgier wollen vor allem selbst das Image ihres Landes prägen. Inhaltliche Bauchschmerzen bereitet ihnen zum Beispiel Als wir tanzten, der 2019 auch in Deutschland anlief und für Schweden ins Oscar-Rennen ging. Der Film biete einen Blick von aussen auf das Land, das wenig mit der Realität gemein habe.
Zur wichtigsten Filmstimme wurde in den vergangenen Jahren der Regisseur George Ovashvilli (Corn Island). Auch er kommt ohne Geld aus Europa nicht aus. Sein bislang letzter Film Beautiful Helen feierte auf dem Festival von Triest Premiere, ein deutscher Verleih fand sich noch nicht. Ab Januar dreht er in Georgien seinen nächsten Film – erneut mit seinen Partner 42Vision aus Deutschland sowie mit Unterstützung von ARTE und dem ZDF.
Katharina Dockhorn, Mestia
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