Karlovy Vary 2025: Les Enfants vont bien (Out of Love) von Nathan Ambrosioni – Das Aufbrechen eines emotionalen Vakuums
Entfremdungsprozesse vollziehen sich oftmals langsam, unscheinbar und unbemerkt. Das war auch der Fall bei den Schwestern Suzanne (Juliette Armanet) und Jeanne (Camille Cottin), die in einer Familie aufwuchsen, in der Herz- und Sinnlichkeit seitens ihrer Eltern nicht gerade grosszügig verteilt wurden. In dem Szenarium einer abwesenden Mutter und eines emotional distanzierten Vaters gab es keine wirklich auffälligen Zwischenfälle, Gewaltausbrüche oder aus nur elaborierten Spannungen. Vielmehr verging die Zeit in einer Art emotionalem Vakuum. Suzanne schien später ein normiertes Leben zu führen und wurde Mutter von zwei Kindern. Jeanne zog eine Einzelkarriere vor.
© Manuel Moutier – Chi-Fou-Mi Productions
Das Internationale Karlovy Vary Film Festival würdig mit Les Enfants vont bien (Out of Love) in seinem zentralen Crystal Globe Wettbewerb einen Film der subtil beobachteten Zwischentöne, der ohne jeden lauten Eklat oder spektakulären Effekt auskommt.
Eines Tages steht die nun etwa 40-jährige Susanne unangekündigt vor Jeannes Tür, zusammen mit ihren beiden Kindern, dem 9-jährigen Gaspard und seiner kleinen Schwester Margot. Sie bittet um die Möglichkeit einer Übernachtung. Mag es auf den ersten Blick scheinen, dass sie an gemeinsame Erinnerungen anknüpfen will und zum ersten Mal bewusst die Nähe ihrer Schwester sucht, wird am nächsten Morgen klar, dass sich hier eine sehr viel problematischere Situation entfaltet. Suzanne wird am nächsten Morgen nicht mehr gesehen. Sie verschwand ohne ihre Kinder und hinterliess lediglich eine vage Abschiedsnotiz für Jeanne, die nun Verantwortung übernehmen muss, eine Aufgabe, auf die sie völlig unvorbereitet ist, mehr als das, die sie auch stets hat vermeiden wollen.
Auch in den nächsten Wochen wird es kein Lebenszeichen von Suzanne mehr geben. Schritt für Schritt rekonstruiert Jeanne nun in einer von Ambrosioni gezeichneten, delikaten und detailgenauen Form ihre Familiengeschichte und nähert sich Schritt für Schritt der emotionalen Wahrheit hinter den normierten Kulissen an.
Susanne verlor sich bereits einen geraumen Zeitraum hinweg seit dem Verscheiden ihres Partners nicht nur in einem sozialen Abstieg, sondern ging auch emotional auf ein Burn-out zu. Sie vermochte den Alltag zwar noch improvisieren, doch mit zunehmenden Leerstellen. Die Wohnung verkam, blieb oft verdunkelt, gelüftet wurde kaum. Die Kinder erhielten kaum Aufmerksamkeit, wie auch keine gesunde Nahrung. Doch auch in dieser Phase gab es weder einen Skandal noch eine augenfällige Verfehlung. Das reduzierte Leben glitt einfach ungesehen von Nachbarn oder öffentlichen Einrichtungen dahin zu einer Leere, die plötzlich für Suzanne nicht mehr lebbar war.
Jeanne dagegen suchte sich seit ihrer Trennung von ihrer langjährigen Partnerin Nicole (Monia Chokri) von allen weiteren Bildungen und Verantwortlichkeiten freizuhalten. Ihre Weigerung, ein gemeinsames Kind zu haben, war bereits ein entscheidender Trennungsgrund gewesen. Sie engagierte sich in ihrem Beruf und lebte ein unauffälliges Leben in ihrem Stadtrandhaus.
Die plötzliche Begegnung zwischen den Schwestern scheint von Anfang an irritiert und kühl. Suzanne scheint noch das Gespräch zu suchen, Jeanne verschiebt es auf den nächsten Tag, ein, wie sich zeigen wird, entscheidender Fehler.
Für Jeanne beginnt nun die Auseinandersetzung mit den Ämtern. Sie darf keine Fürsorge beantragen, solange Suzannes Schicksal nicht geklärt ist. Entscheidender noch, muss sie für sich selbst klären, wie sie sich verhalten will. Doch Schritt für Schritt beginnt sie, sich zu engagieren. Zumindest die Unterbringung der dann getrennt werdenden Geschwister in Internaten will sie unbedingt verhindern. Es folgen andere aufmürbende bürokratische Erfahrungen, wie etwa anlässlich der Einschulung.
Langsam wird sich Jeanne bewusst, dass ihr bisheriger Lebensstil auch nur eine Flucht war, die ihr wirkliche Glückserfahrungen vorenthielt. Sie entwickelt sich langsam zu einer Person, die Zusammensein und Verantwortung nicht nur als Last empfindet. Überraschend bekommt sie auch Hilfestellungen seitens eines Polizisten (Guillaume Gouix), der sie im Amt erst kühl abgewiesen hatte, der jetzt aber seine professionellen Limits überschreitet und tätig wird.
Der bereits vierter Langfilm des erst 25-jährigen französischen Filmemacher Nathan Ambrosioni balanciert feinsinnig und feinfühlig die emotionalen, komplexen Niveaus des Mit- und Gegeneinanders, der Abweisungen und Öffnungen aus, sowohl zwischen den Erwachsenen untereinander wie ebenso zwischen diesen und den Kindern, auch das Spannungsfeld zwischen Sozialarbeiter*innen, Schulpersonal und Hilfesuchenden mit einbeziehend. Keine Figur wird überzeichnet oder moralisch geoutet. Ambrosioni ordnet die nuancierten Wirklichkeiten nie vereinfachenden Effekten unter. Das alltägliche Leben entfaltet sich mit seinen Härten wie fragilen Glücksmomenten. Wenn ein Zentrum oder Ursprung der schliesslich sichtbar gewordenen existenziellen Problematik lokalisiert werden müsste, dann wären es die stillen Jahre eines nicht wirklich gelebten Lebens der nun 40-jährigen Schwestern im Haus ihrer Eltern, wo ihre Mutter früh verstorben war und ihr Vater sich hinter in einer emotionalen Distanz verschanzte. Jeanne scheint dies etappenweise zu verstehen. Sie versucht, nicht die gleichen Fehler zu machen.
Das unspektakuläre, kontrollierte Framing der Szenen erlaubt Ambrosioni ein konzentriertes und subtiles Erfassen der emotionalen Gesten und Abgründe, das sich zu einem meditativen und reflexionsreichen Werk kondensiert.
Von Nathan Ambrosioni; mit Camille Cottin, Juliette Armanet, Guillaume Gouix, Monia Chokri; Frankreich; 2025; 111 Minuten.
Dieter Wieczorek, Karlovy Vary
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