Physische Erkrankungen als gesunde Reaktion auf erkrankte Gesellschaften – Karlovy Varys International Film Festival würdigt die fragilen „Versager“
Eine junge Frau fährt mit ihrem Fahrrad durch eine Grosstadt. In dieser ersten Sequenz wird bereits ein Unbehagen spürbar. Die potenzielle Gefahr dieser banalen Fahrt durch eine grossstädtische Normalität wird amplifiziert durch den im Off erklingenden Bericht dieser Frau über ihren Unfall. Ihren physischen Schmerz empfand sie erst Stunden später, als ihr Zustand sich bereits zunehmend verschlimmert hatte. Dieses Ereignis macht ihr plötzlich bewusst, dass Mechanismen der Verdrängung bereits seit langem ihr Verhaltensmuster bestimmen.
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Über weite Passagen bietet die Kameraführung des im diesjährigen Karlovy Varys International Film Festival in der Proxima Competition präsentierten Dokumentarfilm Action Item Paula Ďurinovás schnelle, aggressive Bildsequenzen, die eine unausgesetzt chaotische Überflutung mit destruktiven Wahrnehmungsimpulsen produzieren.
Verschiedene Personen kommen zu Wort in Therapiesitzungen. Sie alle berichten über ihre Burnouts und depressive Stadien, ihre Ängste und ihre Scham, nicht mehr in dieser Gesellschaft funktionieren, den permanenten Ansprüchen nicht mehr gerecht werden zu können. Sie haben sich aus dieser Realität zurückgezogen, zuweilen auch aus ihren eigenen Körpern. In extremen Stadien sind sie auch physisch bewegungsunfähig geworden, ein Zustand , den sie als wohltuend empfinden, nicht mehr verantwortlich zu sein für ihr oft mit Scham empfundenes Versagen.
Individualpsychologie und pharmazeutische Applikationen neigen dazu, die Ursache für ihre Dysfunktionalität bei sich selbst zu suchen und an die Eigenverantwortlichkeit zu appellieren. Einige jedoch gelangen zu der Erkenntnis, dass die sie umgebenden, anscheinend perfekt sich in normierte Verhaltensmuster fügenden, ebenso von Ängsten und Traumatisierungen heimgesucht werden, diese jedoch perfekter zu kaschieren in der Lage sind.
Paula Ďurinová liest diese Krankheiten neu. Sie versteht sie als gesunde Reaktionen auf ein krankes und autodestruktives System und präsentiert Normalität als den eigentlichen Krankheitszustand. Für die Opfer dieses System, deren Mitmach-Kapazitäten begrenzt sind, ist es ein weiter und schwieriger Weg, ihre isoliert erlebten Ängste und lähmenden Depressionen in Ärger zu transformieren, und Ärger wiederum fruchtbar zu machen als zielgerichtete Aktionen des Widerstandes, die es ihnen endlich wieder erlauben, ein Selbstgefühl zu entwickeln. Dies ist die radikale und prinzipielle Aussage dieses reflektiert dokumentarischen Werkes. Konsequenz zeigt Ďurinová gegen Ende ihres Werkes Sequenzen von Strassenschlachten und Widerstandsaktionen gegen die in manifester Form die erkrankten Gesellschaften verteidigende Polizeigewalt.
Der Weg zu dieser Transformation in Aktion kann lang sein. Oft scheitert er. Ďurinová Dokumentarfilm referiert in ihrem im Berliner Raum situierten Film in langen Sequenzen die vorsichtigen Selbstfindungsprozesse der Nichtangepassten im Rahmen von Gruppentherapien. Diese Bewusstseins-stiftenden Sitzungen werden begleitet von körperlich performativen Momenten der Vertrauensstiftung durch Berührungen und vorsichtiger Zärtlichkeit, die eine Rückkehr in den eigenen Körper möglich machen wollen. Hierin gehört auch ein schlichtes Schlummern auf Grassmulden in einem warmen Gewächshaus als gemeinsamer Erfahrung. Die Suche nach einer authentischen Selbstempfindung ist der erste Schritt einer gesundeten und widerstandsfähigen Rückkehr in ein aktives Leben, das nicht mehr im Opfermodus verglüht.
Mit denkbar klarem Kommentar im Off zeichnet die in Berlin lebende slowakische Filmemacherin Ďurinová eine von Gewalt durchdrungenen Kultur, die unsere Psyche permanent imprägniert. Wir können ein Leben verbringen im Versuch – wie es explizit im Off kommentiert wird – uns von diesen giftigen Inputs auf individueller Ebene zu befreien, vergeblich, weil deren Ursachen individuell nicht verändert werden können. Ďurinová Werk ist ein autobiographisches Zeugnis ihrer eigenen durchlebten Erfahrungen. In ihrem 2024 präsentierten ersten Dokumentarfilm zeichnete sie den Schmerz über den Verlust ihrer Grosseltern nach, in empathischen Konfrontationen mit Steingefügen aller Art, als Metaphern sowohl der Gegenwelt alles Lebendigen als auch gleichzeitig seines zu affirmierenden Teils im kosmologischen Panorama. Auch dieses Werk fand ein Jahr zuvor Eingang in Karlovy Varys Festival.
Von Paula Ďurinová; Slovakische Republik, Tscheschiche Republik, Deutschland; 2025; 69 Minuten.
Dieter Wieczorek, Karlovy Vary
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