Berlinale 2022 – Generation K-Plus : An Cailín Ciúin (The Quiet Girl); Ein Mädchen findet zu sich selbst
Cait (Catherine Clinch) ist neun Jahre alt und ein ruhiges in sich gekehrtes Mädchen. Sie lebt mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern in prekären Verhältnissen. Der Bauernhof der Familie läuft nicht gut, der Vater trinkt und die Mutter ist völlig überfordert. Ihre Schwestern verstehen sie nicht und alle schikanieren sie, weil sie ins Bett macht. Eben genau das, was man eine dysfunktionale Familie nennt. Und in der Schule läuft es auch nicht anders. Als die Mutter kurz vor der Geburt eines weiteren Kindes steht, wird Cait zu Verwandten, die sie noch nie gesehen hat, gebracht. So ist ein Mund weniger zu füttern und es gibt weniger Streit. Eibhlin (Carrie Crowley), ihre Tante, kümmert sich liebevoll um sie, als wäre sie ihr eigenes Kind. Auch die Tatsache, dass der Vater sie nur mit ihren Kleidern am Leib abliefert und sofort wieder fährt, wird von ihr für die Kinderpsyche angenehm überspielt. Ihr Onkel Sean (Andrew Bennett) ist ihr gegenüber anfangs reserviert, aber durch kleine Gesten und gemeinsames Kälberfüttern finden sie zu einander, und auch hier entsteht eine vaterähnliche Beziehung. Das stille Mädchen beginnt sich langsam zu öffnen, überwindet das Bettnässen und blüht völlig auf. Sie macht die Erfahrung, dass man auch anders Leben kann. Hier kann sie endlich sie selbst sein. Doch auch auf dieser Farm gibt es ein Geheimnis, obwohl Eibhlin noch sagt, dass es keine Geheimnisse in diesem Haus gibt, da es sonst Scham birgt. Doch Cait findet das Geheimnis, das man als Zuschauer längst erahnt, heraus und hilft ihren Pflegeeltern dadurch offener damit umzugehen. Doch die Mutter hat ihr neues Kind, und die Zeit zur Rückkehr zu ihren Eltern scheint gekommen.
Verortet in Irland 1981 zeigt der Film viel von der schönen Landschaft Irlands, aber auch das schwere Leben vieler zu dieser Zeit und die Verschlossenheit in der Gesellschaft. Der irische Regisseur Colm Bairead, der bislang viele auf Festivals beachtete Kurzfilme, sowohl in dokumentarischer Form als auch fiktionaler Art drehte, legt hier nun seinen ersten langen Spielfilm vor. Basierend auf einer preisgekrönten Geschichte der Autorin Claire Keegan, die zuerst im New Yorker-Magazin, dann aber in ausgebauter Form auch als Buch erschien. Besonderheit des Films ist, dass er in der irischen Sprache gedreht wurde. Dies ist normalerweise ein Problem für die globale Auswertung im Filmgeschäft, wurde aber durch die Finanzierung der Irish Feature Film Initiative gestemmt, die rein irische Produktionen in irischer Sprache stärken will.
Erzählt wird der Film komplett aus der Sicht des jungen Mädchens, durch ihre Erfahrungen und ihr in sich gekehrtes Leben. Dank der gekonnten Darstellung der kleinen Hauptdarstellerin Catherine Clinch, der man jede Gefühlsregung abnimmt, ja mit ihr mitfühlt. Und die Bilder (Kameraarbeit von der mehrfach ausgezeichneten Kamerafrau Kate McCullough) unterstreichen dies noch. Sie macht neben den konträren Bildern in Umfeld ihrer eigenen Familie und in der hellen, sonnendurchfluteten Farm ihrer Pflegefamilie auch das, was das Mädchen fühlt und sieht sichtbar. Der Regisseur legt dabei sehr viel Wert auf die kleinen Dinge, so wird zum Beispiel das Geben eines Kekses von Sean an das Mädchen zu einer Schlüsselszene in ihrer Annäherung. Die Themen des Zusammenhalts in einer Familie, egal ob in der eigenen oder bei den Verwandten, das psychische Heranwachsen eines Kindes und die Verarbeitung von Trauer, egal ob nach dem Verlust eines Kindes oder der schlechten Behandlung in der eigenen Familie, werden hier gleichwertig behandelt. Und bei dem ergreifenden Schluss kann man die Tränen kaum zurückhalten.
Von Colm Bairead; mit Catherine Clinch, Carrie Crowley, Andrew Bennett; Irland; 2022; 95 Minuten.
Harald Ringel, Berlin
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