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Berlinale 2025 – Die Kurzfilmperlen der 75. Berlinale

Die Regisseurin Giselle Lin ermöglicht dem Zuschauer in ihrem Werk Children’s Day ein sensibles Eintauchen in den Lebenskosmos einer 8-jährigen, die in Singapur lebt. Die junge angehende Frau ist konfrontiert mit der der bekanntlich hochgestressten Leistungsgesellschaft und dessen Konsequenzen in ihrem emphatisch mittreibenden Elternhaus. Mehr als das, findet sich die stille und unsichere Xuan konfrontiert mit einem patriarchisch aggressiven Vater und egozentrischen Schwestern, von denen sie keine Hilfe erwarten kann. In dieser Welt, bis auf wenige Aufmerksamkeiten ihrer Mutter, auf sich allein gestellt sucht Xuan ihre Schwächen und Einschränkungen vor ihren Mitschülerinnen zu verbergen, doch Giselle Lins empathisches Nachspüren ihrer Hauptfigur lässt den Zuschauer miterleben, in welchem Masse schon die kleinste Bemerkung über ihre Aussehen die junge Frau zutiefst verunsichern und verletzen kann. Wie wichtig es in diesem einsamen und unbestätigten  Leben es sein kann, eine Freundin zu finden, wird als zweite Leitlinie ingeniös in den Film eingeflochten. Freundschaft ist die einzige Kraft, die Xuan Lebensmut gibt.

— Emma Lim – Children’s Day
© Potocol

Neben diesem in Wettbewerb platzierten Werk richten selbstredend gleich mehrer Filme in der Generation14plus Kurzfilm-Sektion ihr Augenmerk auf die verletzlichen Zonen jugendlichen Lebens. In Don’t Wake the Sleeping Child (Ne réveillez pas l’enfant qui dort) soll eine 15-jährige in Dakar zwangsverheiratet werden. Kevin Aubert schafft einen Lebensraum, der deutlich macht, dass der Alltag der junge Frau geprägt ist durch ein autoritär forderndes Elternpaar, das ihre Tochter eher als zu kontrollierendes Objekt denn als selbständige Person behandelt. Plötzlich fällt die junge, in der Tat ermüdete Diamant, so ihr Name, in einen rätselhaften tiefen Schlaf, der bald bedrohliche Formen annimmt, da sie nicht mehr aufwacht. Erst jetzt, konfrontiert mit ihrem möglichen Tod, keimen mütterliche Gefühle auf und auch der Vater stellt seine Heiratsversprechen in Frage und beginnt seiner bewegungslosen Tochter Versprechungen zu machen. Als die junge Frau schliesslich erwacht spricht man von einem Wunder. Das wirkliche Wunder jedoch ist, dass sich ihre gesamte Umgebung verändert hat und sie nun endlich als zu einer ernst genommenen, anerkannten Person wahrgenommen wird.

In Connor Jessups Julian und der Wind bewohnen zwei recht unterschiedlicher Jugendliche in einem kanadischen Internats den gleichen Raum. Julian ist Rugbyspieler, arrogant, sportlich und selbstsicher, Arthur ist schüchtern und einfühlsam, fasziniert und auch verliebt in seinen ignoranten Mitbewohner. Erst das Schlafwandeln Julians, das ihn in verletzliche Situationen manövriert,  in denen ihm Arthur lebensnotwendige Hilfestellungen leistet,  lassen Julian endlich verstehen, dass sein Wahrnehmungskosmos bis dahin recht beschränkt war. Der Film endet mit einer verdutzten und nicht mehr ganz so arroganten Mundbewegung Julians, der eines Morgens zu verstehen beginnt, was Arthur für ihn tut und empfindet. Jessup schafft ein subtiles, in keiner Weise sentimental überzogenes Werk, mit delikatem Ende, ein Film, der das eigentliche Potenzial des Kurzfilm exemplarisch dokumentiert.

In die 14plus Sektion Eingang fand auch das aus den Vereinigten Staaten kommende Werk Quaker Giovanna Molinas. Die Quaker sind nur eine der wirkungsmächtigen religiös fanatischen Gruppen in den Staaten, die beunruhigen. Der Film richtet seine Fokus auf ein Abschlussritual in Brooklyn, in dem die Jugendlichen zum Ende des Schuljahres aufgefordert werden, ihre Internatserfahrungen zu resümieren. Doch was normalerweise sich als liebliche Danksagung vollzieht, gerät hier völlig ausser Fugen, als eine Jugendliche ihre Gefühl der absoluten Sinn- und Beziehungslosigkeit laut ausspricht, ihr Gefühl bloss vergeudeten Zeit. Mag es persönlicher Frust, mag es subtile Analyse sein, ihr Statement transformiert die eigentlich formatierte Veranstaltung in eine wirkliche Aussprache. Doch die letzte Einstellung zeigt die junge Frau wieder auf dem Schulweg allein gelassen und isoliert.

Zurück zum Kurzfilm-Wettbewerb: Atmende Steine (org. Élő kövek, eng. Living Stones) des ungarischen Filmemachers Jakob Ladányi kann zweifellos zu den emotional schockierendsten Kurzfilmen des Festival gerechnet werden. Der Film beginnt bereits mit der jungen Natasa, die sich auf Zugschienen gelegt hat um ihren Tod abzuwarten. Darauf taucht der Film in therapeutische Sitzungen ein, in denen sie ihre Ängsten und Traumata hinter nihilistischen Argumentationen zu verbergen versucht. Dem Therapeuten gelingt es jedoch vorzudringen zum eigentlichen Vergewaltigungsakt, gegen den sie sich nicht hinreichend gewehrt hat. Die Therapie scheint in positive Bahnen zu geraten, als der Therapeut ihr die Begegnung mit einem sanften Pferd verschafft. Sie nimmt körperlichen Kontakt auf und beginnt sich anzuvertrauen. Eines Abends wirft sich Natasa in die Arme ihres Therapeuten, der einen schweren Fehler begeht. Der Film endet in schmerzvollster Weise. Ladányi bringt eine psychologische komplexe und Autodestruktion auffächernde Fallstudie von eindringlichster Klarheit nach Berlin.

Ceasefire (org. Prekid vatre) erinnert den Zuschauer an die anhaltenden traumatisierenden Wunden des Massakers von Srebrenica während des Balkan-Krieges. Unter den wenigen Überlebenden findet sich Hazira, die nun seit 29 Jahren im Flüchtlingslager Ježevac lebt. Doch sollen dessen Bewohner nun auch von dort vertrieben und in kleinen Appartements einquartiert werden, für all die, die auf dem Land gelebt haben, eine schwer zu akzeptierende Situation. Mehr als die Ortsunsicherheit lastet auf den Flüchtlingen eine nie verloschene Angst, dass Massaker jederzeit wieder möglich sein könnten. Der Film Jakob Kreses porträtiert eindringlich die starke Frau Hazira, die durch ununterbrochene Arbeit und hastiges Rauchen ihre Albträume von sich fernzuhalten sucht. Selbst nach 30 Jahren ist der ex-jugoslawische Raum, im besonderen Bosnien-Herzegovina, immer noch ein Pulverfass, das jeder Zeit explodieren kann. Eine Aufarbeitung des Krieges und eine Verurteilung der Verantwortlichen der Morde haben nie stattgefunden. Von einer Aussöhnung und einem Neubeginn kann daher keine Rede sein. Hazira wartet, aber in ihre Heimat wird sie wohl nie zurückkehren können, da sie in der Republika Srpska, dem serbischen Teil von Bosnien und Herzegowina liegt.

In der Synopsis des indonesischen Werkes After Colossum von Timoteus Anggawan Kusno heisst es: „Ein fiktionaler Kurzfilm, durchdrungen von magischem Realismus und Mystik, der Formate wie Super 8, Hi8, Video 8, digitalisierten 35-mm-Film und KI-generierte Bilder verwendet, um die turbulente Vergangenheit Indonesiens zu reflektieren“. In der Tat findet man kaum eine Orientierung während der Filmsichtung, der Folterszenen, Schocktherapie, Albträume, Maskenträger, unerklärliche Ereignisse und scheinbar magische Kräfte in Reihe schaltet. Der Film beginnt mit der Befragung eines Traumatisierten im Jahr 1976. Zwischen Laborräumen und Dschungel pendelnd, endet der Film mit einem Kinderchor.  Die Augen aller Kinder sind verbunden, trotzdem wird er von einem Leiter (sinnlos) dirigiert. Im Abspann erfährt man, dass während der „New Order Regime“-Periode von 1965 bis 1998 viele Akte erheblicher Grausamkeit in Indonesien geschahen, deren Verantwortliche nie namhaft gemacht wurden.

Ebenso enigmatisch erscheint das aus Kuba, Brasilien und Haiti stammende Werk Anba dlo.  In Luiza Calagians Film folgen wir einer jungen farbigen Frau, die in einem biologischen Labor arbeitet, dort aber als Fremde bezeichnet und verwiesen wird. Auch ihre Sprache distanziert sie von ihrer Umgebung. Ihr einziger Begleiter, an ihrer Seite beim Wasserschöpfen und Baden, ist ein junger Mann, der sich jedoch bald verabschiedet und schwindet. Thematisch wird allein klar, dass die Frau in dieser ortlosen Dschungellandschaft darunter leidet, nicht zu einer Beerdigung in ihr Heimatland reisen zu können. Sie bleibt eine Gefangene in der Fremdheit. Erst die Synopsis schafft hier einige räumliche und thematische Orientierung. Doch stellt sich die Frage, ob ein derart nur über die Synopsen zugängliches Werk sich als Film behaupten kann, das als Medium sich selbst verständlich machen sollte. Diese Problematik lässt sich gewiss auch auf einen Grossteil der Gegenwartskunst seit Jahrzehnten applizieren. Doch soll diese Bemerkung keinesfalls als Statement gegen das Potenzial der Enigmatik verstanden werden, die in der Tat allein schon wegen ihrer kommerziellen Unverwertbarkeit kaum mehr riskiert wird. Allein daher erscheint sie als besonders wertvolle künstlerische Strategie. Zu vermeiden wäre lediglich der Zwiespalt zwischen der filmischen Darstellung und den scheinbar Klarheit stiftenden Suggestionen der Synopsis.

— Berline Charles und Feguenson Hermogène – Anba dlo
© Luiza Calagian, Rosa Caldeira

Ein denkbar klares Werk dagegen bieten Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluktenko in ihrem Dokumentarfilm In Retrospect (org. Rückblickend betrachtet) an, der den direkten und administrativen Rassismus in Deutschland thematisiert, der gleichfalls auf der diesjährigen Berlinale in den viel beachteten Möllner Briefen und Das Deutsche Volk in weiteren Sektionen namhaft gemacht wurde. 2016 tötet ein deutsch-iranischer 18-jähriger neun Menschen aus rassistischen Gründen in einem Münchener Einkaufszentrum, genau am 5. Jahrestag der Massaker in Oslo und Utoya. Die Hinterbliebenen kämpften jahrelang um die Anerkennung dieser Morde als Akte des extremen Rechtsterrorismus. Auch dieser Mord war angekündigt und hätte, ernst genommen, verhindert werden können. Als Reaktion auf den zunehmenden Rassismus in der Bundesrepublik drehte damals der iranische Filmemacher Sohrab Shahid Saless seinen Film Empfänger unbekannt. Dort laufen Menschen an Häusern, Wänden, und Fassaden voller rechtsextremer Parolen vorbei, ohne sie wahrzunehmen.

Nach den fetten Wachstumsjahren begann man in Deutschland, ab den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Krisen, die vorher als nützlich geduldeten „Gastarbeiter“ als unliebsame Mitbewerber um Arbeitskräfte wahrzunehmen und zunehmend rassistischen Druck auszusetzen. Bereits 1982 verbrannte sich die Poetin und aktivistische türkische Arbeitsmigrantin Semra Ertan in Hamburg auf der Strasse als Reaktion auf die Fremdenfeindlichkeit. „We thought we have been invited, we thought we were guests. It took a while until we understood that although we might be guest here, there is no host who would care of us“, heisst es in einem Zwischentext. Faezi und Zhluktenko zeigen Bilder türkischer Arbeiter, die vor der Kamera zugeben, meist unter sich und in ihren Familien zu bleiben. Einige wollen Deutschland verlassen, denn auf ihrem Alltag lastet eine anhaltende Furcht.

Noch einen zur Sektion des Kurzfilms 14plus zurückkehrend, bleibt der vielleicht poetisch, assoziativste, ästhetisch überzeugendste Film anzumerken. Beneath Which Rivers Flow des irakischen Filmemachers Ali Yahya kommt ganz ohne Worte aus. Wir folgen einem jungen, mit seiner Familie einsam auf dem Lande lebenden Mann. In feucht dunstigen Landschaften nimmt er hilflos das Sterben seiner Bullenherde wahr. In schlichter Empathie umarmt er sein sterbendes Lieblingstier. Die globale Klimakatastrophe wird hier zu einer einzigen Geste kulminiert.

Dieter Wieczorek, Berlin

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Dieter Wieczorek

Journaliste/Journalist (basé/based Paris-Berlin)

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