FFMUC 2025: Von Schnitzler zu #MeToo – The Exposure von Thomas Imbach
Die Herausforderung des Schweizer Regisseurs Thomas Imbach besteht darin, die stilistische Modernität von Arthur Schnitzlers Meisterwerk Fräulein Else (1924), einem Juwel der österreichischen Literatur, ins Kino zu übertragen. Berühmt für seinen inneren Monolog, taucht die Novelle die Leserschaft in die gequälte Psyche der Heldin ein und enthüllt Widersprüche, Ängste und Triebe mittels eines revolutionären Bewusstseinsstroms. Imbach, im Geiste des Brechtschen Verfahrens, das die Illusion des Realismus brechen will, vereint diese doppelte Modernität: jene der tragischen Introspektion und der schnitzlerschen Psychologie, aber auch jene der technischen Möglichkeiten des zeitgenössischen Kinos. Das Ergebnis ist atemberaubend!
© Okofilm Productions
Verlegt von den italienischen Dolomiten (San Martino di Castrozza) nach Sils Maria im Oberengadin, behält die Geschichte ihren grausamen Plot: Lili (Deleila Piasko, die den Film mit verblüffender Meisterschaft trägt), 19 Jahre, Tochter eines ruinierten Wiener Anwalts, weilt in einem Palasthotel der österreichisch-ungarischen Elite. Eingeladen von ihrer Tante Emma (Claudia Hübschmann), konfrontiert sie die Ambivalenzen ihrer Anziehung zu Cousin Paul (Jan Bülow, makellos als egoistischer, unreifer Erwachsener), der eine Liaison mit ihrer Freundin Cissy (Katharina Schüttler, faszinierend im mondänen Zynismus) unterhält. Das Drama bricht herein mit einem Telegramm ihrer Mutter: Ihr Vater drohe mit Gefängnis, sollte er am nächsten Tag eine beträchtliche Summe nicht zurückzahlen, und sie solle den Freund der Familie, Dorsday (Milan Peschel, eisig in verhaltener Lüsternheit), um Hilfe bitten. Dieser jedoch gewährt das Rettungsdarlehen nur gegen das Recht, Lili fünfzehn Minuten lang nackt zu betrachten.
Die massgebliche Veränderung liegt in der Rolle der Mutter. Bei Schnitzler ging der Druck vom Vater aus; hier zwingt die Mutter ihre Tochter, die Familie um jeden Preis zu retten. Diese Umkehrung ist entscheidend: Sie enthüllt die weiblichen Komplizenschaften des Patriarchats und betont, dass Gewalt systemisch ist und in die Mechanismen der Herrschenden integriert wurde. Diese toxische Loyalität verwandelt die Mutter – nicht mehr passives Opfer, sondern eifrige Akteurin des Systems – in einen Spiegel der Verteidigerinnen von Prädatoren, wie man sie beispielsweise in #MeToo-Skandalen beobachten kann, insbesondere im französischen Kino, wo bestimmte Figuren des künstlerischen Establishments Klassen-Codes der Komplizenschaft perpetuieren, wie in den Affären Polanski, Depardieu oder Besson, um nur die berühmtesten zu nennen. Denn wie oft impliziert die Intersektionalität der Unterdrückungsapparate ein oder mehrere Elemente, die das Netz des Systems weben. Hierbei handelt es sich um den libidinalen Kapitalismus, in welchem Begehren, Imaginäres und Triebe der Marktlogik dienstbar gemacht werden und selbst die intimste Sphäre in ein Objekt der Investition und des Profits verwandeln.
Die extreme Brutalität des Male Gaze gipfelt im Satz, den Dorsday Lili entgegenschleudert: „Ich begehre Sie“. Diese Aussage, bar jeden Euphemismus, kondensiert Prädation in einen sprachlichen Akt. Lili begreift sofort, dass die Falle zuschnappt: Ihr scharfes Bewusstsein des Irreversiblen und ihre Lebensenergie, seinen Lauf abzuwenden, prallen auf eine zu mächtige systemische Strömung. Diese Szene kristallisiert die Effizienz von Imbachs Inszenierung, die die Plötzlichkeit der Erkenntnis einfängt, wo Entsetzen mit einer zerreissenden Klarsichtigkeit ringt.
Diese Lesart, düsterer und komplexer, radikalisiert die Kritik der Familiendynamiken und der Ausbeutung und verändert grundlegend die Natur von Lilis Dilemma, das dadurch nur zeitgemässer wird.
Das Eintauchen in Lilis Psyche ist das Ergebnis virtuoser technischer Alchemie: Der Film wurde vollständig auf 16mm-Material gedreht – dessen analoges Korn, weit davon entfernt, bloss poetisch zu sein, erzeugt eine spürbare Fremdheit und verstärkt die psychologische Spannung –, während die Dekors mittels Echtzeit-3D-Rückprojektion geschaffen wurden, projiziert auf eine Leinwand hinter den Schauspieler*innen während der Aufnahme. Diese Hybridisierung aus Physischem (Film) und Digitalem (Projektion) verschmilzt mit dem elektrischen und körperlichen Spiel von Deleila Piasko und schafft eine sensorische Immersion, in der die Materialität des Filmkorns mit der Immaterialität des Virtuellen dialogisiert.
Das Aufnahmeverfahren, radikal in seinem Minimalismus, beschränkt sich auf ein nacktes Studio: Die Schauspielerinnen agieren mit dem Rücken zur Projektionsleinwand, mit nur wenigen physischen Anhaltspunkten: einem strategisch platzierten Spiegel (der ihnen erlaubt, die projizierten Dekors hinter ihnen zu sehen und mit ihnen zu interagieren) und manchmal einem Element wie einem Stuhl. Dieses Verfahren erfasst so die direkte und organische Interaktion zwischen den Körpern der Darsteller*innen und den virtuellen Umgebungen, ohne Zuhilfenahme digitaler Nachbearbeitung. Indem er das Artifizielle bewusst einsetzt, gewinnt Imbach an Reflexivität: Wie Schnitzler einen intimen Dialog zwischen Else und ihrer Leserschaft schuf, projiziert der Film Lilis psychischen Mahlstrom auf das Publikum und öffnet einen Raum und eine affektive Tonart, in die jede*r Zuschauer*in das eigene Imaginäre projizieren kann. Diese kognitive Dissonanz – zwischen der Brutalität der Erzählung und der formalen Virtuosität – wird zur visuellen Metapher von Lilis psychischer Spaltung zwischen sozialer Fassade und innerer Qual, wobei sich in den Zwischenräumen unsere eigenen Reflexionen in einer dritten mentalen Dimension einnisten. Diese gelungene Hybridisierung macht den Film zu einem Labor ebenso wie zu einem Manifest.
© Okofilm Productions
Begegnung mit Thomas Imbach
Sie versetzen sich vollständig in Schnitzlers Novelle und die Gedanken ihrer Protagonistin: Welches waren die Herausforderungen der Adaption und des Schreibens?
Ich habe für einen anderen Film recherchiert über die Innenperspektive von Protagonisten und entdeckte dabei Schnitzlers Fräulein Else neu. Beim Lesen sah ich den Film praktisch vor mir. Ich untersuchte dann bestehende Verfilmungen seit den 1920ern – und staunte, dass keine einzige in 100 Jahren Elses innere Perspektive einnahm. Da dachte ich: Das muss doch möglich sein! Mir war klar, dass ich damit gegen Hitchcocks berühmtes «Verbot» verstiess: „Verfilme niemals gute Literatur.“ Solche Dogmen wirken auf mich wie eine Einladung. Also begann ich mit dem Drehbuch.
Ich kürzte den Originaltext herunter, ersetzte deskriptive Passagen durch filmische Lösungen. Die Arbeit am Drehbuch und später am Schnitt glich der eines Bildhauers: Wir hämmern ständig Überflüssiges weg.
Wie beeinflusste die Virtual Production den Prozess?
Die grosse Herausforderung war, ein Studio zu finden, das so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt hatte: Ich wollte keine perfekte Illusion, wie man sie sonst in Big-Budget-Blockbustern sieht. In Basel fand ich ein kleines Studio mit 3D-Rückprojektion, nicht LED oder Green Screen. Dabei bewegt sich der Hintergrund mit der Kamera. Plötzlich war ich wieder Anfänger: Alles, was ich über das Filmemachen wusste, galt nicht mehr. Man dreht auf eine Leinwand, muss jedes Detail neu denken, mit Tricks arbeiten. Was wichtig ist: Alle Effekte sind Kameraeffekte, nichts aus der Postproduktion!
Das Ergebnis ist extrem präzise choreografiert – Bewegungen der Schauspieler*innen, Licht, Narration. War die Technik für die Schauspieler*innen hinderlich?
Mein Anspruch war, trotz technischer Beschränkungen kreativen Raum zu schaffen. In der Wald-Szene zwischen Lili und Dorsday (die haben wir gegen den Schluss gedreht, wo wir schon relativ viele Erfahrungen hatten) liess ich sie fünf Minuten ohne Unterbrechung spielen, mit beweglicher Kamera. Es war mir wichtig, dass die Schauspieler*innen nicht einfach nur Dienstleistende sind; sie sollen nicht nur Sätze und Gesten liefern, sondern wirklich Platz haben, die Figuren zu sein. Es war auch wichtig, dass sie Spass hatten! Virtual Production ist nicht glamourös – kein Tageslicht, kein Theater-Feeling. Zudem drehten wir auf 16mm. Das verbindet Vorder- und Hintergrund organisch, verändert aber die Arbeitsweise: Man kontrolliert nichts am Set, agiert auf Vertrauen. Digital würde man endlos wiederholen – hier heißt es: Es funktioniert oder nicht. Diese Spannung zwischen Hightech und analogem Film war faszinierend.
Man könnte von einer Mise en Abyme des Imaginären sprechen: das Intime der Protagonistin und die Ausstrahlung dieses Imaginären auf uns, die Zuschauenden. Das paradoxe Wissen, sich in einer künstlichen Welt zu bewegen, lässt Raum für die eigene Vorstellungskraft. Wollten Sie bewusst diese unrealistische Transparenz?
Genau! Es geht ja darum, dass ich nicht eine reale Welt zeige, sondern eine Welt, die Lili wahrnimmt. So konnte ich auch viele Imperfektionen drin lassen. Auch die komischen Avatare im Hintergrund. Man kann es als ihre subjektiven Wahrnehmung verstehen. Deshalb war mir auch wichtig, dass wir nicht reale Aufnahmen und Studioaufnahmen gemischt haben, sondern wir haben alles im Studio gedreht. Nur ein paar Gegenstände – ein Stuhl, eine Tapete und ein Spiegel, der es den Schauspieler*innen ermöglichte, zu reagieren, wenn zum Beispiel jemand auftaucht, da sich die Leinwand mit der Rückprojektion hinter ihnen befindet –, die die Schauspieler wirklich angefasst haben, waren real. Der Rest war projiziert.
Da ist der Wald, die Natur, aber auch die Tiere, die als Metaphern und Lilys Meta-Gedanken dienen. Können Sie uns darüber mehr erzählen?
Ja, es sind Tagträume von Lili. Die Natursequenzen – wie die berühmte Maloja-Schlange auf dem Silsersee – entstanden bei Recherchen. Diese Bilder sind essenziell für Lilis Empfindungswelt – ich konnte sie unabhängig drehen, weil ich Zeit hatte – etwa auf dieses Wetterphänomen zu warten. Beim Spielfilm-Dreh wäre das unmöglich. Sie wirken wie Sauerstoff in der beengten Studioatmosphäre und schaffen Platz und Durchlässigkeit.
Da ist diese lange, emotional aufgeladene Szene im Wald mit Dorsday, gefolgt von ihrem Tanz – das wirkt wie eine Katharsis… für sie und uns Zuschauer*innen…
Ja, das ist ein Moment, der die geladene Atmosphäre entlädt, eine Zäsur.
Die Musik wechselt zwischen Epochen – warum?
In den Befreiungsmomenten orientierte ich mich an Electro-Swing. Die Geschichte spielt in den 1920ern, aber heute würde die Geschichte nicht mehr so funktionieren, es wäre ein bisschen anders. Es war mir wichtig, möglichst an heutige Gefühle anzuknüpfen. In diesem Sinn ist die Musik keine „Filmmusik”, sondern es sind eigenständige Klanginseln.
© Okofilm Productions
Sie sagen, dass die Geschichte heute nicht mehr so funktioniert. Was erzählt sie uns dennoch über die Gegenwart?
Frauen erleben noch immer solche Situationen und natürlich ist es auch eine #metoo-Geschichte – aber für mich, als Mann, zeigt sie universell: Wie wenig es braucht, um die Würde zu verlieren. Das hat mich persönlich am Stoff gefesselt, dass ich so einen unmittelbaren emotionalen Zugang zur Figur gefunden habe. Daher der Titel The Exposure: Sich ausgesetzt fühlen, entblösst werden. Es ist ein menschliches Drama – aktuell in einer Welt, die Menschen, als Individuum, bricht.
Sie haben erwähnt, dass für Sie diese Art von Filmen auch eine ökologische Art ist…
Es war nicht die Motivation, aber ein toller Nebeneffekt: Mit 15 Leuten in einer Garage zu drehen ist ökologischer als mit einem 30-köpfigen Team am Silsersee. Die Branche diskutiert über die „grünen Punkte“ – mein Hauptargument bleibt aber die künstlerische Notwendigkeit dieser Technik für die Geschichte. Mich reizt es immer wieder, neue filmische Annäherungen zu finden, die einer Geschichte wirklich entsprechen. Am spannendsten ist es, wenn ich bei null anfangen muss – wie beim Erlernen einer neuen Sprache. Jedes Projekt verschiebt die Grenzen neu, und genau dieser Beginner-Effekt hält mich frisch.
In einem Interview hat mir ein Regisseur gesagt, dass sein Traum wäre, ein Studio zu bauen und mit Deepfake-Technologie Schauspieler*innen zu ersetzen. Was denken Sie darüber?
Technologie kann fast alles – aber sie ersetzt keine Präsenz. Für mich geht es darum, was im Moment zwischen Kamera und Schauspiel passiert. Gerade weil wir mit virtuellen Mitteln arbeiten, wird das echte Spiel umso kostbarer. Spike Jonze hat das mit Her wunderbar gezeigt: Manchmal reicht eine Stimme, ganz ohne Technik-Tamtam.
Von Thomas Imbach; mit Deleila Piasko, Milan Peschel, Jan Bülow, Katharina Schüttler, Claudia Hübschmann; Schweiz, Vereinigtes Königreich; 2025; 90 Minuten.
Malik Berkati, München
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