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Karlovy Varys Hauptpreis 2025 geht an ein das Aussenseitertum zelebrierendes Werk – Better Go Mad in the Wild

Bereits die erste Einstellung verblüfft. Ein graubärtiger Mann steht in einer sehr hohen Baumkrone und deklariert einen Text, der sein Leben und seinen Tod auf unserer Erde affirmiert. Sofort werden wir Zeuge eines nicht nur alternativen, sondern wirklich aussergewöhnlichen Lebens eines Zwillingsbrüderpaares fortgeschrittenen Alters. František und Ondrej Klišík, die ihre Geburtslandschaft Šumava, ein Naturschutzgebiet im Böhmerwald im Südwesten Tschechiens, nie verlassen haben. Sie verbrachten ihr Leben in einem kleinen Landhaus ohne Heizung, zusammen mit ihren Haus- und Nutztieren, die alle ihren Eigennamen haben.

Better Go Mad in the Wild von Miro Remo
Bild mit freundlicher Genehmigung Karlovy Vary IFF

Der slowakische Regisseur Miro Remo gibt in seinem Dokumentarfilm Better Go Mad in the Wild dem Zuschauer einen einzigartigen Einblick in einen vitalen, energischen, stets phantasievollen und oftmals auch surrealen Lebensstil fern aller Normalität und aktuellen Technologie. Das Brüderpaar inszeniert sein tägliches Leben, das Františeks Devise „Poems are lived, not simply penned“ in eine authentische Realisierung umsetzt.

František, der vor Jahrzehnten seine rechte Hand bei einem Arbeitsunfall in einem Sägewerk verlor, bettet sich gern ganz in die Natur ein, findet Unterschlupf in einem Berg mit Salatköpfen, isst die ihn umgebenden hochgewachsenen Wildpflanzen und lässt sie über seinem Körper gleiten. Er träumt davon, fliegen zu können. Immer wieder bricht er zu Versuchen auf, mit selbst gebautem Fluggerät bei starkem Wind sich davon tragen zu lassen. Aber auch beflügelt von einem hohen Heuhaufen oder anderen Gestellen zu springen sind Teil seiner fortdauernden Anstrengungen.

Das gemeinsame, nie stillstehende Leben ist – wie bei jedem Paar – von Phasen des Streits wie der Versöhnung markiert. Ihr Leben ohne TV, nur ein Radio findet manchmal Gebrauch, ist ein ununterbrochener Balanceakt zwischen Nähe und Abgrenzung. Zuweilen lebten hier auch einige Frauen, doch lange blieben sie nie. Besonders Ondřej beklagt diesen Mangel an weiblicher Sinnlichkeit, gesteht jedoch dem Bruder auch seine Fehler im Umgang mit Frauen in der Vergangenheit zu. So reicht das Panorama ihres Dialoges von langen Umarmungen, Nasenküssen oder gemeinsamen Ruhens auf Gräsern oder in Baumwurzelnischen hin zur Installation einer trennenden Mauer, die das Haus durchzieht. Doch dann wird wieder ein kleines Loch gebohrt und die Brüder hauchen sich durch diesen Zigarettenhauch zu.

Miro Remo lässt in seinem vom Buch gleichen Titels Aleš Palán und Jan Sibiks inspirierten Film auch anklingen, dass diese im Wald verborgene Enklave bedroht ist. Die Kräfte der über 60-Jährigen für die schweren Feldarbeiten oder die Handhabung eines Bullen gehen langsam aus. Als der Bulle sogar zur Gefahr wird für seinen Bruder, zögert Ondřej nicht, das geliebte Tier mit Eigennamen zu schlachten, welches in einer in Erinnerung bleibenden Szene genüsslich seinen Bart leckte und kaute. Eine tiefe Verbundenheit mit den Tieren ist Teil ihres Lebens. Selbst in einer Szene, wo Ondřej einen Hahn mit der Axt köpft, tröstet er diesen, nicht furchtsam zu sein, da er nur in eine andere Lebensform übergehe. Die verbindende Spannung zwischen Tod und Leben, das ständige Bewusstsein um die Endlichkeit unserer Existenzform, die jeden Augenblick als wertvoll erscheinen lässt, ist der Grundton in Remos Werk.

Als Pointe mag erwähnt sein, dass eine Kuh als langlebiger Zeuge zuweilen das seltsame Leben der Brüder im Off kommentiert.

Der Poet František hat Frieden gemacht mit seinem Tod, gleichzeitig jedoch arbeitet er jahrelang an einem Fluggerät, das ihn in die Freiheit transportieren soll. Sein Bruder hingegen bricht in Tränen aus, als ein Song im Radio ertönt, der vom Abscheiden einer stillen, unscheinbaren Existenz erzählt.  Sein täglicher Alkoholkonsum, ein ständiger Streitpunkt mit seinem Bruder, ist für ihn auch eine Form der Lebensbewältigung.

Dieses Brüderpaar verkörpert eine nahezu zeitlose Existenzform, amplifiziert durch ihre schlichten, illusionslosen, kosmisch orientierten Lebensphilosophien. Ihre langbärtigen Gesichter, wie auch ihre Kleidung, können in vielen Gemälden seit der Renaissance gefunden werden. Ein grosser kreisförmiger Spiegel dient zuweilen als Einhaltepunkt der Selbstreflexion. Er findet sich an unterschiedlichen Orten wieder. Einmal tragen ihn die Brüder auch in die umgebenden Wälder. Auch ein im Freien aufgehängter Bildrahmen schafft ihnen Möglichkeit und Abstand, ihre Existenzform zu transzendieren.

Gewiss bietet Remo seinen Protagonisten Spielraum zur Selbstinszenierung. Daher findet der Term Dokufiktion hier auch seine Berechtigung. Das Acting-Out surrealer Phantasien in einigen Szenen erscheint jedoch eher als eine Extrapolation ihrer Realität denn als eine kalkuliert hinzugefügte Fiktion. Umgeben von Gras und Alkohol durchdringen sich Wahrnehmungen und Wirklichkeiten leichthin.

Das zuweilen in dieser scheinbar noch intakten Naturlandschaft erklingende symphonisches Poem „Mein Vaterland – Moldau“ Bedřich Smetanas verstärkt noch einmal den zeitlosen Rahmen der Existenz dieses eigenwilligen Brüderpaares.

Better Go Mad in the Wild von Miro Remo
Bild mit freundlicher Genehmigung Karlovy Vary IFF

Mehrfach hat Miro Remo in seinen früheren Filmen seine besondere Sensibilität für das Leben von Aussenseitern und vereinzelten Existenzen bewiesen. In seinem aktuellen Film transformiert er die dort oftmals beobachteten negativen und auch destruktiven Impulse in ein Panorama selbstbewussten, sich selbst feiernden, oftmals auch freudvollen Andersseins.

Better Go Mad in the Wild endet mit einem Dialog über den Tod. Ondřej entschuldigt sich bei seinem Bruder, wahrscheinlich als erster zu sterben. Sein Alkoholkonsum mache dies wahrscheinlich. František vermag, über jede Todesmelancholie zu lachen.  Sein transzendierender Blick verdichtet sich in einem seiner im Film zitierten Gedichte:

„Life is a futile task, or –
A Prize you never asked for
Life is a wave at its crest
A fleeting dream before eternal rest.
Which itself
eternal though it may well seem
Is but a prelude to another dream.“

František nahm nicht an der Abschlusszeremonie in Karlony Vary teil, wo Remos Werk den „Crystal Globe“ Hauptpreis davontrug. Er hatte sich aufgemacht zu einem Freund auf dem Lande. Zuvor kehrte er auf dem Weg dorthin in eine kleine, kaum besuchtem Gaststätte ein. Dort wollte er die Zeremonie per TV verfolgen, ankündigend, dort einen Preis zu gewinnen. Niemand nahm ihn ernst. Erst als sein Gesicht auf dem Bildschirm erschien, wollte jedermann mit ihm sprechen. Er zeigte einige seiner Gedichtbände und ging davon. Am nächsten Morgen fand man seinen Körper neben einem benachbarten Teich.

Von Miro Remo; Tschechische Republik, Slowakische Republik; 2025; 84 Minuten.

Dieter Wieczorek, Karlovy Vary

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Dieter Wieczorek

Journaliste/Journalist (basé/based Paris-Berlin)

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