WATCH DOCS festival : Der ferne Blick auf Covid-19
Nikolaus Geyrhalters (*Wien 1972) unverkennbaren Dokumentarstil ist gekennzeichnet durch lange Sequenzen, unbewegliche Kameraeinstellungen und Verzicht auf musikalische Begleitung, wie auch weitgehend auf Interviews. Es lässt die Dinge selbst sprechen. Man könnte seinen Stil einem suggestiven Realismus nennen, der zuweilen zu einen magischen Realismus kulminiert. Seine Bilder bleiben im Bewusstsein haften, gerade weil ihnen Zeit gegeben wird, ihre Wirkung zu entfalten. Eines der grössten Human Rights Festivals, Warschaus WATCH DOCS, widmete dieses Jahr Geyrhalter ein Sonderprogrammblock.
Einen Dokumentarfilm über die durch Covid-19 geprägten Jahre anzugehen ist angesichts der medialen Überflutung von spektakulären und schockierenden Szenen eine Herausforderung, die Geyrhalter in seinem letzten Werk Stillstand nicht scheut. Auch das renommierte Dok Leipzig Festival öffnet diesem Werk Eingang in sein diesjähriges Wettbewerbsprogramm. Streng chronologisch vorgehend und sich auf Österreich beschränkend, zeichnet Geyrhalter hier die Monate mit ihren unterschiedlichen Phasen und Notständen mit einem scheinbar unbeteiligten Blick noch einmal nach.
In bekannt multi-perspektivischen Form wechselt er permanent zwischen Randphänomenen wie doppelt gesperrten Grenzübergängen, Dutzende am Boden haftende Flugzeuge, menschenleere Wartehallen hin zu den signifikanten, fragilen Zentren des Geschehens, wie Atemassistenz auf Intensivstationen, Strassenprotesten und Regierungsverlautbahrungen.
Bewusst verzichtet wird auf die Aufzeichnung von schmerzhaften Todesmomenten und physischen und psychischen Zusammenbrüchen. Vielleicht wird in der Zukunft gerade deshalb sein Film aufgrund seiner distanziert neutralen Sichtweise als eines der Referenzwerke der Dokumentierung der Covid Belastung gelten. Nur die wichtigsten Fakten and Daten werden hin und wieder per Schrift eingeblendet, kommentarlos.
Wie nebenbei wird dagegen in Erinnerung gerufen, wie viele Menschen in der Covidphase eine Chance – und vielleicht die letzte – sahen, der noch sehr viele grössere Bedrohung durch die notwendig zur Klimakatastrophe führende Umweltverschmutzung noch etwas entgegen setzen zu können. Auch entwickelten sich neue Formen der Solidarität, Gegenkräfte zu einer Lebenswert isolierter Wohnungszellen.
In seiner panoramischen Sichtweise, wenn man so will, wie durch ein „göttliches Auge“, referiert Geyrhalter über den Stand der Dinge. Bereits die Titel seiner Filme wie Homo sapiens (2016), Erde (2019) Abendland (2011) etc. bezeugen seine Intension, eine globale Perspektive zu entfalten, die immer wieder in kleinste situative Details hinein taucht, jedoch in aller solchen Fülle, dass mosaiksteinartig ein umfassendes Realitätsbild entsteht.
Innere Dynamiken wie die Wandlung von Covid-Leugners zu persönlich Beunruhigten oder Betroffenen werden ebenso ins Bild gebracht wie Hintergrundinformationen zum Krisenmanagement, etwa die an geheim gehaltenen Standorten gelagerten Agglomerate von Schutzkleidungen. Dem Zuschauer eröffnet Geyrhalten den Zugang zu Räumen und Situationen, die ihm ansonsten verborgen blieben. Er erlaubt den meist zu Kulissengängern reduzierten, ihr Wirklichkeitsspektrum zu erweitern.
Resümierend bleibt festzuhalten, dass die österreichische Gesellschaft hinreichend effizient auf die bis dahin unbekannte Bedrohung reagierte. Politisch nachdenklich dagegen stimmt, dass es an einer vergleichbaren Effizienz angesichts noch weit grösserer Gefahren leider mangelt.
Von Nikolaus Geyrhalter; Österreich; 2023; 137 min.
Dieter Wieczorek
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