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Watch Docs Festival : Der Untergang des Widerstandes gegen den Klimawandel in Zeitlupe

Wenig Dokumentarfilme bieten die Möglichkeit, aktive Verantwortung tragende Politiker aus grösster Nähe out of record zu beobachten. 70/30 der dänischen Regisseurin Phie Ambo ist einer von ihnen. Kürzlich in Warschaus Watch Docs präsentiert, folgt der Film dem 2019 ins Amt kommende Minister für Energie und Klima Dan Jørgensen und seiner engagierten vertrauten Kollegin Ida Augen, die sich von Beginn an zur Sprecherin der rebellierenden Jugend macht.

70/30 von Phie Ambo
Bild mit freundlicher Genehmigung Det Danske Filminstitut (Foto Marie Hald)

70/30 beginnt mit der Aufzählung der wissenschaftlichen Warnungen vor einem Klimawechsel, die bereits 1856 (!) beginnen und seitdem an Dringlichkeit ständig zunehmen. Nach massiven, vor allem von Jugendlichen getragenen Strassenprotesten kommt 2019 die Sozialdemokratische Partei in Dänemark an die Macht, mit dem klaren Mandat, einschneidenden Veränderungen in der Klimapolitik voranzutreiben. Es ist die erste Klima-Wahl in Dänemark. Jørgensen ist sich der Dringlichkeit bewusst. Er verfolgt neuere wissenschaftliche Analysen, die bisherigen Spekulationen über die Folgen des Klimawandels zu optimistisch ausweisen. Die Veränderungen werden radikaler sein und früher eintreten, aufgrund von Rückkoppelungseffekten zwischen schmelzenden Eis, Freisetzung von Methan aus dem abtauenden Permafrost, Reduktion der Rückstrahlung der Sonnenstrahlen-Wärmeenergie ins All durch sich vermindernde Eisflächen und der Erwärmung der Weltmeere, um nur einige zu nennen. Irreversible Kipppunkte werden sehr bald erreicht sein.

Die erste schmerzhafte Einsicht ist evident: was immer wir auch tun, diese Prozesse sind nicht mehr zu stoppen. Doch Jørgensen gibt er sich keine Zeit, sich in Zweifeln, Enttäuschungen und Depressionen zu baden. Sein politisch deklariertes Ziel ist eine 70%-Reduktion des CO2 Ausstosses bis 2030, im Rahmen der Einhaltung des Pariser „Climate Pact“. Zu manifestieren, um sich gut fühlen, für die richtige Sache einzutreten, reicht nicht. Es braucht strategische Ziele und konkrete Massnahmen. Für den Minister heisst dies, es braucht einen Zeitplan, der unmittelbar beginnt und klare Entscheidungen parlamentarisch und exekutiv durchgesetzt, um wirklich erkennbare Effekte zu erzeugen. Die Verantwortung zu delegieren an die Bevölkerung, mit Aufforderungen zur Mülltrennung und vegetarischer Lebensweise sind nur eine heuchlerische Variante des Nichtstuns. Nur ein bedeutungslos kleiner Teil wird Ratschlägen folgen, wenn die Nachbarn weiterhin fleissig an ihrem zerstörerischen Verhalten festhalten.

Doch nun beginnt die Crux der demokratischen Realpolitik, in der wirklich einschneidende Veränderungen für die nächsten Jahre nur schwer durchzusetzen sind. Populisten werden an die Macht kommen mit dem einfachen Argument, dass derartig massive Einschränkungen nicht nötig seien. Wir kennen die immer gleichen Argumente der Verleugner. Eine wirkliche Wandel der industriellen Produktion wird die nationale Wirtschaftskraft und das Einkommensniveau mindern, zur Arbeitslosigkeit und zur Umverteilung des Reichtums führen, samt den damit umhergehenden sozialen Konflikte. Und schliesslich fehlt natürlich das Totschlag-Argument nicht: selbst wenn sich in Dänemark die Situation mit all den nötigen Opfern verbesserte und Klimaziele erreicht würde, was änderte dies schon, angesichts der weltweit voran schreitenden  Katastrophe. In der Tat, nur wenn „UN Climate Declarations“ in konkretes Gesetz und Recht verwandelt würden, gäbe er eine Pflicht zur Tat und damit eine Chance des planetaren Überlebens.

Selbst wenn einschneidende wirtschaftliche Transformation auf längere Sicht keinen Abstieg der Wirtschaftskraft bedeuten, auch wenn Veränderungen partiell zu Arbeitslosigkeit, auf lange Sicht jedoch zu neuen Arbeitsplätzen führen, muss sich der Realpolitiker auf seine Wiederwahl konzentrieren und kann langfristig notwendige Projekte, die kurzfristige Engpässe mit sich bringen, kaum durchsetzen.

So schränkt auch Jørgensen sein politisches Engagement ein und fokussiert sich auf die Reduktion der Ölproduktion in der Nordsee, wo Dänemark eine führende Position einnimmt. Er weiss, selbst wenn eine 70% Reduktion gelänge, wäre dies nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

Aber selbst in diesem beschränkten Feld folgt der nächste Einbruch. Die Lizenzen der Ölgewinnung sind bis 2052 bereits vergeben von der vorhergehenden rechten Regierung. Phil Ambo folgt mit seiner Kamera den Politikern bis hin zu den sich schliessenden Türen. Er bringt politisch wohlfeile Mahnreden ins Bild, gefolgt von Konzerten und Buffets. Er vergisst nicht die sich verraten fühlenden Jugendlichen, die verzweifelten das Gespräch suchen mit jenen, die wirkliche Veränderung versprachen. Sie träumen immer noch von einer ganz anderen Gesellschaft, ohne sich jedoch in die unangenehmen Details zu vertiefen, wie diese zu organisieren sei.

Der Kompromiss der Realpolitik. Es sollen keine, zumindest keine neuen Abbaulizenzen vergeben werden. Doch selbst dies, das lässt der im Oktober 2019 verabschiede Haushalt zunächst nicht zu, da kein Budget für wirkliche Transformationen mehr zur Verfügung steht. Erneut wird die Neu-Lizenzvergabe zur Diskussion gestellt, selbst wenn das Staatsbudget nur minimal davon profitieren würde.

Aus den Büros schwenkt die Kamera wieder nach aussen. Jugendliche entblössen auf den Strassen ihre Oberkörper und lassen sich mit schwarzem Öl übergiessen. Es kommt zu Strassenblockaden, die auch die Aktivistenbewegung aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen über psychische Formen des Widerstandes spalten. Auch unter den Rebellen finden sich solche, die materiellen Aufschwung für unablässig halten und für die eine mögliche Arbeitslosigkeit ein nicht zu tolerierender Faktor ist.

Nach der entscheidenden Plenarsitzung rühmt sich das dänische Parlament mit dem „World strongest Climate Deal“, wird mit grosser Mehrheit verabschiedet. Im Februar 2020 jedoch kommt bereits ein neues Modell zum Tragen, das eine Besteuerung auf Abbau-Lizenzen vorsieht, da es ansonsten zu Stilllegung von Kraftwerken und Konkursverfahren käme, deren Kosten der Staat nicht ausgleichen könnte.

Wie nicht nur in Dänemark ist die Realpolitik nicht in der Lage, die Kosten in ihre Kalkulation aufzunehmen, die programmierten Umweltkatastrophen mit sich bringen werden. Sie können das ganze Wirtschaftssystem implodieren lassen.

Neue Nachrichten über die rapide abnehmende Biodiversität werden publiziert.

Die Corona-Krise setzte ein. Diese führte nicht, wie viele sich erhofften, zu einem radikalen Umdenken, da sich die Verschmutzungswerte deutlich verbesserten und Statistiken die Zunahme der Lebenszeit für 80 % der Bevölkerung prognostizierten. Im Gegenteil: die politische Reaktion ist die erneute Dominanz der wirtschaftlichen Kompetenz und der unbedingten Joberhaltung als politisches Ziel. Wichtige Konferenzen für international verbindliche Aktionen wurden annulliert. Auch Kohle wird weiter produziert, wenn auch besteuert.

Die einzige positive Initiative ist der Plan der Erstellung zweier Windparkinseln. Eine allein könnte 1,5-mal des Energiekonsums Dänemarks decken. Doch ihre Fertigstellung wird Zeit in Anspruch nehmen.

Ida Augen gratuliert Jørgensen zu zumindest diesem Erfolg. Wir sahen sie zu Anfang als engagierte Sprecherin der fordernden Jugend. Nun hat sie sich ins Privatleben zurückgezogen. Wie wir vermuten können, burn out. Sie erinnert an die offenen Fragen, ob die Menschheit mit vielleicht 5 Grand höherer Welttemperatur überleben kann, mehr und dringender aber noch, ob Menschlichkeit und Solidarität überleben können angesichts der unglaublichen Flüchtlingsströme, welche die absehbare Zukunft mit sich bringen wird.

Weitere Lizenzvergaben werden abgesagt. Öl und Gasproduktion werden ab 2050 abgeschlossen werden, so das nun deklarierte Ziel. Bis dahin werden den CO2 fördernden Industrien jedoch stabile Konditionen garantiert, d.h. Unterstützung für Beschäftigungsmodelle und selbst Investitionen. In der Tat ist bis dahin Dänemark, der grösste Gas und Ölproduzent Europas und gleichzeitig das erste Land weltweit, das zumindest diesen Schritt geht.

Für die Jugendlichen ist all dies nicht mehr als ein symbolischer Akt, der keine wirkliche Veränderung in der nächsten Zeit zur Folge hat. Die notwendige dringliche Umkehr ist abgeschrieben. Die Diskussion um die 70% Marke scheint nunmehr verschwunden. Aber genau dies Versprechen brachte die jetzt Verantwortlichen an die Macht.

Klima und Energieminister Jørgensen hat keinen Zweifel, welchen umfassenden Reorganisationsmassnahmen wir entgegensehen, die alle Teile unseres Privat- und Gesellschaftsleben betreffen. Doch nach ihm kann dies auch eine Chance sein, das Leben und nicht den Profit wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

In den Worten einer der porträtierten engagierten Jugendlichen:

„Wir können die Machtstruktur umkehren und die Macht wieder der Bevölkerung geben. Wir können eine neue inklusivere und gleichberechtigte Gesellschaft schaffen, die wir brauchen, um unsere Klimaziele zu erreichen, weil es um die Priorität des Lebens geht“.

Fakt ist, 2021 bezifferte die jährlich erscheinende Publikation des dänische „Council on Climate Change“ die erbrachte Leistung in Hinsicht auf das 70%-Reduktionsziel auf nur lediglich 1/3 der notwendigen Transformation. Keine weiteren konsequenten Massnahmen seien in Planung.

Von Phie Ambo; Dänemark; 2021; 138 Min.

Dieter Wieczorek

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Dieter Wieczorek

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