ALFILM, das Arabische Filmfestival Berlin, ist für seine 11. Ausgabe vom 1. bis 29. September 2020 ein Nomadenfest
Wie hart sind die Zeiten für die Filmindustrie! Filme kommen nur tröpfchenweise heraus, die Kinos sind leer, Festivals werden abgesagt, und wir wissen immer noch nicht, welche Auswirkungen dies alles auf zukünftige Produktionen haben wird. Aber diese aussergewöhnlichen Zeiten sind für manche Menschen auch eine Gelegenheit, sich neu zu erfinden, ihre Kreativität unter Beweis zu stellen und für Filmverteiler ihre Flexibilität und ihren Erfindungsreichtum. Während viele Festivals, die in dem ersten Semester der Covid-19-Pandemie stattfinden sollten, einfach abgesagt wurden (Cannes), sind einige zu Hybriden geworden (Locarno) – online und physisch -, andere, wie Venedig, das diese Woche beginnt, haben beschlossen, unter Einhaltung gesundheitlicher Auflagen zu veranstalten – Venedig ist also der Stresstest der kommenden grossen Festivals. Und es gibt die kleineren Festivals, die, nachdem sie ihre Termine vom Frühjahr auf den Herbst verschoben haben, in der Hoffnung, dass sich die Situation verbessert hat, das Abenteuer des physischen Festivals auch in Bezug auf die abwehrende Geste gegen Coronavirus versuchen. Es ist mutig und ein fast schon militanter Akt, nicht durch das Hybride oder Reine Online zu gehen, um Filmen die Leinwand zu geben, für die sie gemacht wurden – die grosse Leinwand – und um den Zuschauern die ursprüngliche Erfahrung zu geben, sie in einem grossen, öffentlichen Raum zu sehen.
ALFILM, das arabische Filmfestival in Berlin, das in diesem Jahr sein 11-jähriges Bestehen feiert, ist eines davon.
In einem anderen Konzept findet das Festival über den ganzen September (bis zum 29. September) in 3 Kinosälen statt: Freiluftkino Kreuzberg, Kino Arsenal, City Kino Wedding. Das Programm ist reduziert, aber von aussergewöhnlicher Qualität: Fast alle Filme in der diesjährigen offiziellen Auswahl und dem Spotlight Resistance is Female – Weibliche Perspektiven auf Krieg, Konflikt und andere Ausnahmezustände wurden von einer grossen internationalen Jury aus Filmkritikern für den Preis für den besten arabischen Film des Jahres nominiert.
Das Festival bietet mit dem Spotlight eine Diskussion mit einem Panel an, das aus drei Frauen besteht, deren Filme im Programm vertreten sind: Naziha Arebi, Regisseurin von Freedom Fields, Waad Al-Kateab, Ko-Regisseurin von For Sama, und Zahraa Ghandour, Hauptdarstellerin von The Journey. Die Diskussion wird von Irit Neidhardt, Autorin, Kuratorin und Filmverleiherin, moderiert.
Einer besonderen Rolle kommt sowohl im Kino als auch in der Gesellschaft der Frauen zu, deren Situation vor allem in Ausnahmezuständen eine besondere Verletzlichkeit des sozialen Gefüges, aber auch Resilienz offenbart
betont Claudia Jubeh, Festivalleiterin.
Auf der Website des Festivals wird es auch einen Raum geben, in dem Begegnungen und Diskussionen mit den Regisseuren im Streaming sichtbar sein werden (vom 14. bis 20. September).
Wegen seines reichhaltigen Inhalts und seiner Qualität unterstützen wir ALFILM seit vielen Jahren: Die Art und Weise, wie das Festival in diesem besonderen Jahr weitermacht, ohne seine Seele zu verlieren, gibt uns Recht. Sehen Sie sich diese ergreifenden Filme auf der grossen Leinwand an und teilen Sie gemeinsam Ihre Emotionen, das ist es wirklich wert!
Programmwahl
You Will Die at Twenty von Amjad Abu Alala: Eröffnungsfilm im Freiluftkino am 1. September um 21.15 Uhr. Der Film erzählt das Leben von Muzamil (Mustafa Shehata), der seit seiner Geburt unter dem Schwert des Damokles des Todes lebt. Als er geboren wurde, sagte ein Marabut seiner Mutter voraus, dass er im Alter von 20 Jahren sterben würde. Diese Vorhersage zerstörte die Familie: Der Vater, unfähig, die Aussicht zu ertragen, verlässt das Dorf und geht ins Ausland zur Arbeit; die Mutter lebt in ständiger Todesangst. Sie lässt ihn ohne zu rebellieren seinem Schicksal entgegengehen und macht ihn zu einem jungen Mann, der für die Dinge des Lebens und sein Alter unempfindlich ist. Bis ein Exzentriker, der am Rande des Dorfes lebt – ein Trinker, ein Liebhaber von Frauen und vor allem des Kinos – einen neuen Wind über sein Leben weht, den der Geschmack der Freiheit. Dieser Film gewann den Preis Lion of The Future bei der letzten Mostra von Venedig.
For Sama von Waad Al-Kateab und Edward Watts eröffnet das Spotlight am 2. September um 20 Uhr im Kino Arsenal. Sama ist die kleine Tochter der Ko-Regisseurin und dieses Videozeugnis ein riesiger Liebesbrief an Sama, an die Stadt, in der sie geboren wurde, an Syrien und an alle ihre Frauen und Männer guten Willens des Landes. Es protokolliert die Ereignisse, die Aleppo zerstörten, und der Bedingungen, unter denen ihre Eltern auf ihre Weise kämpften, bis zum Ende dessen was menschlich möglich war, in den Ruinen der Stadt. Es ist auch ein brutales, aber notwendiges Eintauchen des Zuschauers in einen Krieg, der aus den kleinen Bildschirmen und Informationen kennt, die uns auf Distanz lässt, um ein menschliches Ausmass anzunehmen. Ergreifend!
Scrwedriver von Bassam Jarbawi: Aus eigener Erfahrung greift der palästinensische Regisseur ein Tabuthema auf – das unaussprechliche Trauma der willkürlichen Inhaftierung in israelischen Gefängnissen. Ziad (Ziad Bakri) und Ramzi sind unzertrennlich und gehören zum Roster der Basketballmannschaft im Al-Amari-Flüchtlingslager bei Ramallah. Ramzi wird bei einem Schusswechsel getötet, Ziad wird verhaftet und in Einzelhaft in einem israelischen Gefängnis untergebracht. Er ist unschuldig. 15 Jahre später kommt er heraus und wird von seiner Familie und der ganzen Umgebung als Held des palästinensischen Widerstands gefeiert. Aber er fühlt sich weder als Held, noch fühlt er sich auch nur für den Alltag eines Lebens geeignet, zu dem er sich angesichts dieses Status gezwungen ist. Er ist Halluzinationen und Wutanfällen ausgesetzt und muss sowohl gegen seine inneren Dämonen als auch gegen den Druck der Gemeinschaft ankämpfen.
Talking About Trees von Suhaib Gasmelbari. Der Film hatte bei der Berlinale 2019 den silberne Bär für den besten Dokumentarfilm gewonnen. Die Kritik hier (auf Französisch).
Freedom Fields von Naziha Arebi – die unglaubliche Geschichte von drei jungen Fussballerinnen aus Libyen, die mit Händen und Füssen kämpfen, um ihre Leidenschaft unter akzeptablen Bedingungen ausleben zu können und vor allem von ihrem Verband das Recht auf die Teilnahme an internationalen Turnieren zu erhalten. Dieser Kampf, der über 5 Jahre gedreht wurde, zeigt auch die Entwicklung der Situation im Land nach der internationalen Militärintervention im Jahr 2011: von der Euphorie der Anfänge bis zum politischen und militärischen Chaos, in dem sich das Land immer noch befindet und das alle Bevölkerungsschichten in ihrem täglichen Leben betrifft, sowie die Träume dieser jungen Frauen. Dieses Porträt der Gesellschaft durch diese 3 Einzelschicksale ist sehr fein ausgearbeitet: Diese Frauen kommen aus unterschiedlichen sozialen und politischen Hintergründen, sind aber in einer gemeinsamen Leidenschaft vereint – dem Fussball.
Malik Berkati
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