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Berlinale 2024: Panorama-Blicke auf komplizierte Beziehungswelten

Das Panorama machte es einem diesmal nicht einfach es wirklich zu mögen. War es noch vor zwei Jahren die mit Abstand beste Berlinale-Sektion, gab es in diesem Jahr eine Menge Filme, die nicht wirklich zündeten oder bei denen man sich fragte, was die Macher damit sagen wollten. Dies kann sich aber im nächsten Jahr auch schnell wieder verbessern. Und einige gute Filme gab es auch in diesem Jahr.

— Patra Au Ga Man – All Shall Be Well
© Mise en Scene filmproduction

Ray Yeung, der bereits 2020 den starken Film Suk Suk im Panorama hatte, kehrte nun mit All Shall Be Well genauso stark zurück und gewann verdient den diesjährigen Teddy-Award.  Angie (Patra Au Ga Man) und Pat (Maggie Li Lin Lin) sind seit 30 Jahren ein Paar und leben glücklich in ihrer gemeinsamen Wohnung. Doch als Pat stirbt, beginnen die Probleme. Da in China lesbische Lebenspartner nicht anerkannt werden, und sie auch nicht im Ausland geheiratet hatten, beginnt der Kampf um ihre Beerdigung. Pats Wunsch nach einer Seebestattung wird vom Bruder und der Familie nicht anerkannt, ebenso erbt der Bruder die Wohnung und will sie verkaufen. Eine Freundin, die Rechtsanwältin ist, kann ihr aber auch nur zum Teil helfen. Mit Hilfe ihrer Freundinnen beginnt der lange und späte Weg zu ihrer Emanzipation. Ein anrührendes und erhellendes Drama auf (chinesische) Lebens- und Rechtsgewohnheiten.

Andrea lässt sich scheiden ist der zweite Regiefilm des bekannten Schauspielers und Kabarettisten Josef Hader aus Österreich. Nachdem sein Erstling Wilde Maus 2017 im Wettbewerb gezeigt wurde, diesmal also im Panorama. Hader spielt Franz, einen Religionslehrer und Ex-Alkoholiker, der den durch Unfall verursachten Tod des Mannes einer Polizistin und die Fahrerflucht gesteht. Andrea (Birgit Minichmayr), die Frau des Toten, ist gerade im Begriff sich scheiden zu lassen und einen Job in der Grossstadt anzunehmen. Als ihr Mann nach einer Party betrunken vor ihr Auto rennt und stirbt, begeht sie Fahrerflucht. Da kommt ihr das Geständnis von Franz gerade recht, ist der doch sehr unbeliebt und jeder traut ihm die Tat zu. Doch ihrem neuen Chef in der Stadt (Robert Stadlober) kommt einiges komisch vor. Ein starkes Kriminaldrama um Schuld, Sühne und Verdrängung, bei dem einem nur der trocken- böse Humor von Hader fehlt. Aber der hätte hier auch nicht wirklich gepasst.

Between The Temples ist der neue Film des internationalen Festivallieblings Nathan Silver aus Amerika. Jason Schwartzman spielt einen jüdischen Kantor, der, seit ihn seine Frau verlassen hat, in einer Glaubenskrise ist. Er kann nicht mehr singen, was seinen Rabbi aber nicht stört, singt er doch selber viel zu gerne (und falsch). Seine Mutter und ihre Frau (Dolly De Leon, bekannt aus Triangle of Sadness) unterstützen ihn, möchten aber das er eine neue Partnerin findet und aus den Depressionen herauskommt. Da trifft er Carla (Carol Kane), seine Grundschullehrerin für Musik wieder, die eine verspätete Bat Mizwa haben möchte. Er soll sie zur Prüfung führen, beginnt aber Gefühle für die ältere Frau zu entwickeln. Dies kommt bei deren Sohn und der Freundin in spe vom Kantor nicht gut an. Ein zutiefst menschlicher Film, der berührt und die Frage stellt, wie wichtig es ist, immer alle Glaubensregeln einzuhalten oder einfach nur Mensch zu sein.

Crossing von Levan Akin war der viel beachtete Eröffnungsfilm. Wie schon bei seinem Vorgängerfilm And Then We Danced geht es um sexuelle Vorurteile in Georgien. Ging es dort um einen homosexuellen Tänzer, geht es nun um eine Transfrau. Die hatte sich vor längerer Zeit aus Georgien in die Türkei abgesetzt und will nicht gefunden werden. Doch Lia (Mzia Arabuli), eine Lehrerin im Ruhestand, hatte ihrer gerade verstorbenen Schwester versprochen, ihre Nichte Thekla wiederzufinden. Da sieht ein angeblicher Freund seine Chance in die Türkei zu kommen und verspricht der Tante, sie zu ihr zu bringen. Was natürlich nicht passiert. Eine Anwältin für Trans-Rechte will ihr helfen, aber alle Spuren laufen ins Leere. Ein interessanter Reise- und Selbstfindungsfilm, bei dem Istanbul mit seinen Stadtvierteln eine große Rolle spielt. Ein starkes Drama, bei dem die Einbildungen und Traumsequenzen am Ende etwas überflüssig erscheinen.

Faruk von Asli Özge ist eine gelungene Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm. Die in Berlin lebende türkische Regisseurin war bereits zweimal mit Spielfilmen im Programm der Berlinale. Sie dreht nun eine Dokumentation über Gentrifizierung in Istanbul. Dabei wird ihr eigener 90-jähriger Vater Faruk immer mehr zum Hauptdarsteller, soll doch auch sein Haus abgerissen und ersetzt werden. Dabei ist auch die Regisseurin im Laufe des Films immer häufiger im Bild beim Drehen zu sehen. Auch gibt es Traumsequenzen, Hauseigentümer-Besprechungen, die eindeutig inszeniert sind, und die Telefongespräche am Ende lassen einen vermuten, dass der ganze Film eben doch ein richtiges Drehbuch hatte und ein Spielfilm ist.

Jia Ting Jian Shi (Brief History Of A Family) ist der Debutfilm von Lin Jianjie. Shu (Sun Xilun) ist ein Schüler aus der Unterschicht, der ständig gemobbt wird. Auch von Tu Wei (Feng Zu), einem Sohn aus einer wohlhabenden Familie. Sie befreunden sich schließlich und Tu Wei nimmt Shu mit nach Hause. Die Eltern sind erfreut über die Freundschaft, weil sie den stets höflichen und wissbegierigen Schüler mögen und hoffen, dass der ihrem Sohn Nachhilfe in Englisch geben kann, muss der doch einen Test bestehen um im Ausland studieren zu können. Der will das aber eigentlich gar nicht und möchte am liebsten den ganzen Tag nur Videospiele spielen. Shu wird immer mehr zum Sohn und der echte Sohn merkt dies immer deutlicher. Und was stimmt von den Erzählungen Shus von seinem Leben und seinem Vater wirklich? Der Film beginnt als Milieustudie, aber wird immer mehr zum Thriller, bei dem man sich fragt, was wahr und was nur gespielt ist.

Pendant ce temps sur terre (Meanwhile On Earth) ist der erste Realfilm des Franzosen Jeremy Clapin. Bekannt wurde er mit seinem Animationsfilm J’ai perdu mon corps (Ich habe meinen Körper verloren), der weltweit 32 Filmpreise gewann und für den Animation-Oscar nominiert war. Doch er wollte diesmal mit realen Schauspielern arbeiten. Elsas (Megan Northam) Bruder verschwand vor drei Jahren bei einer Weltraummission. Das kann sie nicht verwinden. Eines Tages hört sie Stimmen aus einem Sendemast und eine Art Wurm setzt sich in ihren Gehörgang. Eine ausserirdische Lebensform kontaktiert sie und macht ihr einen Vorschlag: Sie muss helfen für fünf Ausserirdische Wirtskörper zu finden, damit diese auf der Erde leben können. Dafür wird sie ihren Bruder wiedersehen. Als Pflegekraft für meist demente alte Leute klappt es zuerst ganz gut. Doch beim letzten Wirt muss sie eine Entscheidung treffen. Ein interessanter Ansatz für einen Science-Fiction-Film, der die Frage stellt, wie weit man für ein persönliches Ziel gehen würde.

— Saoirse Ronan – The Outrun
© The Outrun

The Outrun ist der neue Film von Nora Fingscheidt, die mit Systemsprenger zu Weltruhm kam. Saoirse Ronan spielt eine junge Frau, die seit Jahren Alkoholikerin ist. Sie fühlt sich nur gut, wenn sie getrunken hat. Darunter leidet ihr Job und die Beziehung zu ihrem Freund (Paape Essiedu) endet, da dieser mit ihren Alkoholexzessen nicht mehr länger umgehen kann. Auch ihr Vater (Stephen Dillane), der langsam Haus und Hof verliert, ist Alkoholiker. Um Clean zu werden, zieht sie auf die schottische Insel Okney. Doch es ist ein dauerhafter Kampf ständig Alkoholfrei zu sein. Saoirse Ronan kaufte die Rechte am Buch und wollte unbedingt Nora Fingscheidt als Regisseurin. Dem Film sieht man den Stil der Regisseurin auch an. Ein gut gespieltes, ordentliches Alkoholikerdrama, allerdings hat man dies schon öfter ähnlich gesehen.

Verbrannte Erde ist der neue Film des Berlinale-Dauergastes Thomas Arslan. Er hatte beinahe jeden seiner Filme im Programm der Berlinale. Der Berufskriminelle Trojan (Misel Maticevic) kehrt nach zwölf Jahren nach Berlin zurück. Er braucht Geld und lässt sich für einen Gemälderaub engagieren. Dafür stellt er ein Team zusammen mit einer professionellen Fluchtwagenfahrerin (Marie Leuenberger). Der Coup gelingt, aber der Kunde will nicht zahlen und setzt einen Killer (Alexander Fehling) auf die Gruppe an. Ein gut gemachter Krimi im Stil der Schwarze-Serie-Filme, nicht mehr und nicht weniger.

Kritik und Interview All Shall Be Well (Malik Berkati, auf Französisch)
Kritik und Interview Crossing (Malik Berkati, auf Französisch)
Kritik And Then We Danced (Firouz E. Pillet, auf Französisch)
Kritik Wilde Maus (Malik Berkati, auf Französisch)

Harald Ringel, Berlin

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Harald Ringel

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