Berlinale 2024Cinéma / KinoCulture / Kultur

Berlinale 2024 – Wettbewerb: Viele Genres und Stile in verschiedener Qualität

Dem letzten vom scheidenden Programmdirektor Carlo Chatrian kuratierten Wettbewerb kann man eines nicht vorwerfen: Eintönigkeit. Der diesjährige Wettbewerb hatte von allem etwas dabei- vom Feelgoodmovie mit viel Musik, über Science-Fiction, Zeit und Gesellschaftskritischem bis zum Dokumentarfilm. So konnte jede*r etwas Passendes finden, aber es gab auch vieles, was nicht wirklich gut war im Programm oder eher ins Special gehört hätte.

Dahomey de Mati Diop
© Les Films du Bal – Fanta Sy

Der goldene Bär ging erneut (nach 2023) an einen Dokumentarfilm. Der 67-minütige Film Dahomey von Mati Diop, die 2019 mit ihrem Erstlingsfilm Atlantique in Cannes einen Preis gewann, zeigt die Rückführung von 26 Kunstobjekten von Paris nach Benin. Nach langem Kampf mit der französischen Regierung wurden die Statuen im Rahmen einer Restitution kolonialistischer Kunstbeschlagnahmungen nach Afrika zurückgebracht. Der Film verfolgt den Transport, die Ankunft in Benin und die Diskussionen darum. Als besonderer Kunstgriff hört man die geisterhaft verzerrte Erzählstimme einer der Statuen. Dies erinnert an Soundeffekte ihres Spielfilms aus Cannes. Das Sujet des Films ist gut und voll zu unterstützen, aber es bleibt die Frage, ob dies wirklich der beste Film war. Und ist es wirklich sinnvoll, Spiel- und Dokumentarfilme in einem Wettbewerb zu mischen?

La Cocina des Mexikaners Alonso Ruizpalacios (bereits dreimal bei der Berlinale dabei) basiert auf dem Theaterstück von Arnold Wesker. Der Film spielt in einem New Yorker Restaurant und verfolgt die Geschichte dreier Hauptfiguren. Da ist Estela (Anna Diaz), die durch eine Verwechslung einen Job als Köchin bekommt, Pedro (Raul Briones Carmona), einem Jugendfreund von ihr aus Mexiko, der so etwas wie der heimliche Küchenchef ist und Julia (Rooney Mara), seiner Freundin. Diese ist schwanger. Sie will im Gegensatz zu ihm kein Kind und will es abtreiben lassen. Schliesslich ist er verheiratet. Als Geld verschwindet und er im Verdacht steht, schraubt sich seine psychische Belastung hoch und er sieht rot. Der Film, der hauptsächlich in der Küche spielt, ist ein starkes Ensemblepiece mit guten Schauspieler*innen, die die Probleme der illegalen Mitarbeiter und auch aller anderen Mitarbeiter in einem Mirokosmos sehr gut herausarbeitet. Leider ohne Preis, wie einige Filme, die einen Preis verdient hätten.

A Different Man von Aron Schimberg erzählt die Geschichte von Edward (Sebatian Stan, bekannt durch Avengers-Superheldenfilme). Der Schauspieler hat starke Gesichtsverformungen und bekommt keine richtigen Rollen. Er verliebt sich in seine neue Nachbarin (Renate Reinsve), sieht aber keine Chance. Als er durch eine neue Gesichtsbehandlung zu einem echten Schönling wird, arbeitet er später als erfolgreicher Immobilienmakler. Doch als seine frühere Nachbarin ein Stück über ihre Treffen am Theater inszeniert, will er die Rolle über sein eigenes Leben unbedingt, gibt sich aber nicht zu erkennen. Alles läuft gut, bis ein Mann (Adam Pearson, der wirklich Gesichtsdeformationen hat) ihm Rolle und Frau wegschnappt. Dies führt zur Katastrophe. Der Film, für den Sebatian Stan den Darstellerpreis gewann, ist eine starke Studie über Selbstwahrnehmung und wie einen andere Leute sehen. Über das Ende kann man streiten, aber insgesamt ein interessanter Film.

L’Empire von Bruno Dumont ist ein Film, der die Gemüter spaltete. Entweder man liebt ihn oder man mag ihn überhaupt nicht. Der Film erhielt den Jurypreis und das voll verdient. Dumont, der immer schon für ungewöhnliches Kino stand, bietet dieses Mal eine Science-Fiction-Parodie, die sich vor amerikanischen Vorbildern wie Spaceballs nicht verstecken muss. Bekannt geworden durch ruhig-unterkühlte Kriminaldramen (L’Humanité, Flandres) probiert sich Dumont durch viele verschiedene Genres und Stile. Vom Künstlerporträt Camille Claudel über seine zwei Jeanne D’Arc-Filme (der zweite als Musical) bis zum publikumswirksamsten France, seinem „normalsten“ Spielfilm über Schein und Sein in der Medienwelt. In der Welt tobt der Kampf zwischen den guten und bösen Ausserirdischen, seit ein besonderes Baby geboren wurde (Das Omen lässt grüssen), das den Bösen zum Sieg verhelfen soll. Mit vielen weiteren Zitaten (es gibt  z. B. Lichtschwerterkämpfe à la Starwars) gespickt, spielen zwei der erfolgreichsten französischen weiblichen Jungstars Lyna Khoudri (The French Dispatch, Haute Couture, November) und Anamaria Vartolomei (Das Ereignis, Ein königlicher Tausch) die Hauptrollen. Auch das ist neu, sind sonst im Scifi eher Männer die Hauptfiguren. Camille Cottin als gutes, meist geisterhaftes Alien und Fabrice Luchini, in seiner stets sehr schräg deklamierenden Rolle als böses Alien, hatten sichtlich Spass an ihren ungewöhnlichen Rollen. Auch die beiden Gendarmen aus Dumonts Comedy-Serien (Lil QuinQuin) sind in ihren Rollen mit dabei. Ein Film der gute Laune macht und vor allem auch mit seinen grossartigen Kulissen, mit ungewöhnlichen Raumschiffen (z. B. ein fliegendes Schloss) für viele Schaueffekte sorgt.

Gloria! der Italienerin Margherita Vicario war der schönste und publikumsfreundliche Film im Wettbewerb. Die Regisseurin, die in ihrer Heimat ein Popstar ist, ist ein vielseitiges Talent. Sie ist Autorin, Komponistin, Regisseurin und Sängerin. Der Film spielt 1800 im Saint Ignacio College in der Nähe von Venedig. In Schulen wie diesen wurden Mädchen, die Waisen oder irgendwie gestrauchelt waren, untergebracht und mit Arbeit ausgebeutet und rechtlos behandelt. Als die Mädchen ein neumodisches Pianoforte erben, welches der komponierende Pfarrer verkaufen will, beginnen sie selbst zu komponieren und werden dem einfallslosen Pfarrer, der für den Papst ein Stück komponieren soll, zum letzten Strohhalm sich nicht zu blamieren. Doch die Mädchen nutzen das Konzert zu einer Art Befreiungsschlag, bei dem sie zum Missfallen des Papstes ein sehr modernes, unkirchliches Werk aufführen. Der Film erinnert an die vielen nie gewürdigten Komponistinnen und Musikerinnen und dies auf höchst sympathische und unterhaltsame Weise.

— Carlotta Gamba, Maria Vittoria Dallasta, Paolo Rossi, Sara Mafodda, Veronica Lucchesi – Gloria!
© tempesta srl

Langue étrangère von Claire Burger (bekannt durch Party Girl) erzählt von der 17-jährigen Fanny (Lilith Grasmug), aus Frankreich, die ihre Brieffreundin Lena (Josefa Heinsius) auf Einladung ihrer Mutter (Nina Hoss) in Leipzig besucht. Die Französin, in ihrer Heimat von Mitschülern gehänselt, fühlt sich zunächst nicht willkommen, wollte Lena sie gar nicht da haben. Doch beide interessieren sich für politischen Aktivismus und es entsteht mehr als eine Freundschaft. Doch als Lena herausfindet, das Fanny oft lügt, wird alles infrage gestellt. Ein interessanter Film über Liebe und Einsamkeit und die Art und Weise damit umzugehen.

My Favourite Cake (Keyke mahboobe man) von den Iranern Maryam Moghaddam und Behtash Saneeha, die beide mit einem Ausreiseverbot aus dem Iran belegt wurden und an der Berlinale nicht teilnehmen konnten, erzählt von der 70-jährigen Mahin (Lily Farhadpour) die sich vereinsamt in einen Taxifahrer verliebt, der ebenfalls vereinsamt lebt. Beide finden in einer Nacht zueinander und wollen zusammen bleiben. Doch das Schicksal hat andere Pläne. Der Film kritisiert iranische Zustände wie das erzwungene Kopftuchtragen, spionierende Nachbarn und vieles andere, aber nicht bierernst wie sonst in solchen Filmen, sondern in der Form einer Komödie. Stark.

Des Teufels Bad der österreichischen Regisseure Veronika Franz und Severin Fila, bekannt für ihre Horrorfilme Ich seh, ich seh und The Lodge kamen diesmal mit einem Drama aus dem Jahr 1750 in Oberösterreich. Agnes heiratet jung und hat nur ein Ziel: ein Kind. Doch ihr Mann beachtet sie nicht und schläft nicht mit ihr. Und die Schwiegermutter mag sie nicht. Ihre immer stärker werdende Einsamkeit führt in eine Verzweiflungstat, die ein Kind das Leben kostet. Und das nur, weil ihr Selbstmord sie in die Hölle führen würde. Eine Studie über Einsamkeit und religiöse Repression. Hauptdarstellerin Anja Plaschg verkörpert dies grossartig und hätte einen Darstellerpreis verdient gehabt. Aber wenigstens hat der Kameramann Martin Gschlacht den Preis für seine starke Bildgestaltung gewonnen.

Shambala war der letzte Film im Wettbewerb und der erste nepalesische Film im Wettbewerb der Berlinale. Regisseur Min Bahadur Bham war zuvor mit seinem Film The Black Hen in Venedig vertreten. Der 150 Minuten lange Film war keine Minute zu lang und erzählt in starken Bildern von Kameramann Aziz Zhambakiyev die Geschichte von Pema. Die lebt mit ihrem Mann in einer polygam lebenden Dorfgemeinschaft. Als der auf Geschäftsreise geht und sie in einer Nacht mit dem Dorflehrer trinkt, beginnen die Gerüchte über den Vater ihres zukünftigen Kindes. Ihr Mann kehrt nicht zurück und sie macht sich mit seinem Bruder, einem Mönch, auf die Suche nach ihm. Als er schliesslich zurückkehrt, erklärt sie sich zu einem Wahrheitstest bereit, der sie ihr Leben kostet. Doch sie kommt dadurch ins Shambala.

Kritik auf Französisch von Malik Berkati Dahomey
Kritik auf Französisch Firouz E. Pillet Atlantique
Kriktik auf Französisch von Malik Berkati My Favourite Cake

Harald Ringel, Berlin

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Harald Ringel

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