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Berlinale 2025 – Berlinale Special: Die Morde von Hanau im Licht anhaltenden Rassismus in Deutschland

Wieder finden Gedenkfeiern statt die Verbesserung und Aufklärung versprechen. Die Hinterbliebenen der Mordopfer empfindet dies vor allem als Trauerfeiertourismus. Eine Gedenkfeier wurde ohne ihre aktive Organisationsteilnahme geplant, am Ort der Gräber der Getöteten. Sie selbst wurden lediglich eingeladen, daran teilzunehmen.

Das Deutsche Volk von Marcin Wierzchowski
© Marcin Wierzchowski

Vor fünf Jahren tötete ein 25-jähriger in Hanau neun junge Menschen, die ihm nicht als deutsch erschienen. Anschliessend tötete er seine Mutter und sich selbst. Es gibt den puren mörderischen Rassismus, der in Deutschland Tradition hat. Es gibt aber auch den behördlichen und polizeilichen Rassismus, der viele Formen annehmen kann.

Der Regisseur Marcin Wierzchowski reiste unmittelbar, nachdem er von der Tat erfuhr, nach Hanau. Es verging Zeit, bis Vertrauen entstehen konnte, als Basis seiner Filmes, der jetzt seine Weltpremiere in der Berlinale Spezial Sektion feierte.

Bereits am Tatort wurden die engsten Angehörigen stundenlang weder über den Zustand, noch über den Standort ihrer Familienmitglieder informiert. Am Ort der Morde, die Hanauer “Arena Bar”, war der Notausgang, durch den die Opfer noch hätten fliehen können, verschlossen. Fast unglaublich ist dagegen, dass auch der Notruf nicht funktionierte und dies den Behörden bereits eine Zeitlang bekannt war.  Mehr als das, der Täter selbst machte sich eine Woche vor seiner Tat auf YouTube sichtbar und nahm aktiv Kontakt mit Polizei und Sicherheitsbehörde Kontakt auf.

Keiner dieses Spuren wurde verfolgt. Die Tat hätte verhindert werden können. Die Tatsache allein, dass ein bereits aktenkundlich als psychisch Gestörter und wegen verschwörungsideologischer und rechtsextremistischer Aussagen auffällig Gewordener einen Waffenschein besitzen konnte, stellt fundamentale Unzulänglichkeiten des staatlich verbürgten Personenschutzes in Frage.

Ein erster Untersuchungsausschluss bestätige der erst 50 Minuten nach dem Anschlag erscheinende Polizei, Ambulanz und Sicherheitskräften, u. a. eine SWAP-Einheit, die später wegen rechtsextremer Orientierungen aufgelöst wurde, “hervorragende  Arbeit“. Keine Aufarbeitung der Fehler und Versäumnisse wurde von stattlicher Seite eingeleitet. Die Angehörigen selbst mussten aktiv werden, um die Gründe der fatalen Versäumnisse Schritt für Schritt blosszulegen. Mit den Fakten konfrontiert hiess es wiederum in einer offiziellen Stellungnahme, dass in der Arena Bar gar keinen Notausgang vorgesehen war. Fakt ist, dass er ausgeschildert war. Auch gibt es Indizien, dass der Fluchtweg durch eine  polizeiliche Anordnung geschlossen worden war, weil hier zuvor ein Drogendealer fliehen konnte.

Vorbeugende Massnahmen nach Morddrohungen in die Wege zu leiten, so verlautet es hinter verschlossenen Türen, könne die durch deren Menge überforderte Polizei eh nicht mehr leisten.

In langen Gesprächen mit den Hinterbliebenen gelingt es Marcin Wierzchowski den Hinterbliebenen Raum zu geben, ihre komplexen Lebenssituationen zu schildern, ihre verschiedenen Weisen und Stadien, mit Trauer und Verlust umzugehen, aber auch den Blick nach vorne zu richten.

Die Erfahrung tägliche Rassismus wird hier allzu deutlich. Der Filmemacher begleitet sie zu ihren Treffen mit der Stadtverwaltung, diversen Aktionsgruppen und Behörden. Deren Mechanismen rhetorischer Bewältigung werden kristallin eingefangen. Stets an der Seite der Hinterbliebenen geht es Wierzchowski vor allem um in respektvollen Abstand geschaffene Persönlichkeitsporträts, allen Sensationsjournalismus vermeiden.

Bereits 2022 wurde ihm für seine 47 Minuten lange Dokumentation Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen, der Grimme-Preis zugesprochen.

Als die Hinterbliebenen in der Stadt Hanau auf dem zentralen Marktplatz eine Erinnerungs- und Mahndenkmal errichten wollten, wird ihr Vorschlag von den Behörden abgelehnt, mit Hinweis auf die antizipierte Bevölkerungsablehnung. Die Bevölkerung selbst wurde nie zu einer Direktabstimmung geladen. Das Denkmal wurde an einen anderen Ort verlegt.

Fünf Jahre später konnte man den Hinterbliebenen auf der Berliner Bühne Fragen stellen. Allen ist Enttäuschung und Frust anzumerken. Geboren in Deutschland, in Deutschland zu Eltern geworden, nach einem arbeitsreichen (nicht sozial unterstützten!) Leben sind sie immer noch täglich mit dem Blick konfrontiert, der ihnen signalisiert, nicht dazuzugehören. Das Deutsche Volk, so der Filmtitel, hat selbst 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in einer nicht zu klein anzusetzenden Zahl immer noch keinen Weg gefunden, sich kulturell zu öffnen und eine Willkommenskultur zu etablieren, in der Differenzen als Chance der Selbstorientierung und der Wahrnehmung von Alternativen wahrgenommen werden könnten.

Natürlich wäre es jedoch ebenso analytisch und kulturell ebenso verfehlt, durch den Term „deutsches Volk“ all die Stimmen verschwinden zu lassen, die genau diese Lebenshaltung entwickelt haben und auf unterschiedlichsten Ebenen täglich gegen den anhaltenden Rassismus anzukämpfen und konkrete Hilfestellungen leisten. Von daher wäre wohl ein Filmtitel wie „Schwarzes Deutschland“ oder „Deutschtum über Alles“ angemessener gewesen.

Politische Reden dagegen, die Versprechungen artikulieren, ohne sie zu erfüllen, instrumentalisieren die Opfer lediglich zu ihren eigenen Zwecken. Dies wird in nötiger Klarheit auch von den Hinterbliebenen auf der Berliner Premierenbühne ausgesprochen. Erst fünf Jahre später klang kürzlich in der Rede des angereisten Staatspräsenten zumindest ein „Bedauern“ an, doch keine öffentliche Entschuldigung wurde ausgesprochen oder gar sichtbare Konsequenzen benannt.

Von Marcin Wierzchowski; Deutschland; 2025; 132 Minuten.

Zum gleichen Thema, in der Sektion Panorama: Die Möllner Briefe, die sich mit zwei rassistischen Brandanschlägen befassen, welche Mölln 1992 erschütterten und das Leben dreier Mitglieder einer Familie forderten sowie zahlreiche Schwerverletzte hinterliessen. Lesen Sie die Kritik von Malik Berkati auf Französisch.

Dieter Wieczorek, Berlin

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Dieter Wieczorek

Journaliste/Journalist (basé/based Paris-Berlin)

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