Cannes 2025 – Semaine de la Critique: Imago – Eine vorsichtige Reise zu den existenziellen Fragen des Lebens
Seit nunmehr 10 Jahren realisiert Cannes Festivals auch einen Dokumentarfilmwettbewerb L’Œil d’or. In diesem Jahr ging der Hauptpreis an ein aussergewöhnliches intimes Werk, das ohne spektakuläre Effekte oder direkte Aktualitätsbezüge auskommt und Schritt für Schritt seine ganz eigenartige, in Erinnerung bleibende Wirkung entfaltet. Déni Oumar Pitsaev tastet sich in seinem Werk Imago, präsentiert in Cannes Semaine de la critique-Sektion, sehr vorsichtig und sich Zeit nehmend an die Schlüsselfragen menschlicher Existenz. Heimat, Verortung, Familie, Generationskonflikt, Mut und Versgagen, Verantwortung, Widerstand und Anpassung, kurz, hier wird letztlich der Sinn des Lebens selbst zum Thema.
© Triptyque Films
Der Film beginnt mit einer Autofahrt hinein in eine idyllische, von hohen Bergzügen umrahmte Landschaft, dem Pankisi Tal im Kaukasus. Die Geschichte dieser georgischen Region in Nähe zur tschechischen Grenze ist weniger idyllisch. Es handelt sich um eine tschetschenische Enklave auf georgischen Grund, einen Ort, zu dem Tschetschenen vor zwei Kriegsmassakern in ihrem eigenen Land flohen. In dieser Ersatzheimat lebt sie heute noch, ein friedliches Leben führen nach streng gläubigen, muslimischen Regeln. Hier kaufte die Mutter des Filmemachers, dem prinzipiellen Protagonisten seines Filmes, ein Landstrich, in der Hoffnung, ihr Sohn werde hier ein Haus bauen und eine Familie gründen. Dies ist für die selbst Vertriebene ihr grösste und vielleicht einzig noch bleibende Hoffnung. Ihr Sohn lebt heute exiliert zwischen Belgien und Paris: Beide überlebten einst gemeinsam kriegerischen Säuberungen, Vertreibungen und ethnischen Reinigungen in ihrem Herkunftsland.
Von Anfang an klingt ein Familienkonflikt an, der wie ein Schatten über allen möglichen gegenwärtigen Ereignisse und Entscheidungen liegt. Pitsaev Eltern trennten in seinen sehr jungen Jahren. Die Mutter lief weg, der Vater folgte ihr nicht, um sie heimzuholen und verlor somit auch den Kontakt zu seinem Sohn. Für den nun vaterlosen Sohn blieb diese Trennung ein traumatisches Ereignis, besonders intensiv empfunden in Momenten, als er selbst in Lebensgefahr geriet.
Nun kehrt er in die Dorfgemeinschaft zurück, beobachtet und diskutiert, mit Frauen, denen es nur schwer möglich ist, zu studieren oder auch nur einen Führerschein zu machen. Selbst von Zwangsheirat ist die Rede. Auf der anderen Seite frequentiert er Männergruppen, in öffentlichen Räumen stets unter sich, die sich vorwiegend dem Sport und Kampfspielen widmen.
Nichts scheint in Pitsaev Werk gestellt oder remaked. Die Position der Kamera ist stets allen Teilnehmern bewusst. Déni sucht nach Orientierung in einer Umwelt, die ihn auffordert zu bleiben, eine Frau zu finden und ein Haus zu bauen. In der Tat hat er bereits einen architektonischen Entwurf eines Hauses vorbereitet, der sich allerdings weit von üblichen Standards entfernt, ein in 12 Meter Höhe auf Stelzen stehendes kleines Haus ohne Gästezimmer, eher ein Beobachtungsturm als ein sich in eine Gemeinschaft integrierendes Gebäude. Der sich hier schon manifestierende Widerstand gegen die Normen und Riten verdichtet sich immer mehr auch in den Dialogen.
Déni geht sparsam, aber sehr bestimmt mit Sprache um, einen wirklichen Dialog mit Frauen und Männern (in jeweils getrennten Gruppen) suchend. Seine Fragen sind offen, vorurteilslos nach wirklichen Antworten suchend, ob er auf einem Landstrich verweilen will, der ebenfalls nicht seine tschetschenische Heimat ist, wenn er auch als Mikrokosmos seine ehemalige Kultur repräsentiert. Manchmal verstummt er, etwa als sein Vater ihn fragt, ob es nicht der Sinn des Lebens sei, für andere zu leben, für die eigene Familie, Verantwortung zu übernehmen für seine eigenen Kinder.
Braucht der Mensch eine Heimat, ist Familiengründung ein notwendiges existenzielles Ziel, welche Rolle spielen Kreativität, Freiheit und Selbstbestimmung, all diese Fragen sind präsent in Pitsaev Begegnungen. Imago ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit traditionellen Weltbildern eines ortlos gewordenen Filmemacher, der exiliert nach Antworten sucht. Er sieht den stummen Schmerz seiner Mutter, die nicht über ihre Enkel reden kann und daher zu ihren Rosen spricht, eine Mutter, die nicht mehr singt.
Um das letzte entscheidende Gespräch mit seinem Vater wird auch die Bedeutung des Titels Imago gelüftet, ein Naturphänomen, mit dem sich Pitsaev seinem Vater zu erklären versucht. Mit Imago wird der Zustand bezeichnet, wenn eine Raupe plötzlich in ihrer Entwicklung innehält und aufhört, weiteres Leben zu schaffen. Zu einer Umarmung zwischen Vater und Sohn kommt es nicht, doch zumindest lässt der Vater seinen Sohn wissen, dass er alle seine Entscheidungen akzeptieren wird und an seiner Seite steht, was immer er tun möge. Ihn frei und selbstständig zu sehen, sei sein Lebensglück.
© Triptyque Films
Déni Oumar Pitsaev zeichnet in hier eine existenzielle Reise nach, bis hin zu den schmerzhaftesten Grenzen der Selbstbestimmung. Ein schwarzes Loch verursacht jedoch einen inneren Tumult in seinem Werk, die Antwort auch auf die seltsamerweise nie gestellte Frage, warum seine Mutter damals weglief. Damit begann die Familientragödie, die sich bis in die Gegenwart zieht. Er führte ein Leben ohne die Möglichkeit der Erinnerung an einen Vater. Sein Vorwurf bleibt, dass dieser nicht alles getan habe, nach seiner Frau und seinem Kind zu suchen, auch aus Angst, sich lächerlich zu machen in einer patriarchalischen Zwangsgemeinschaft. Déni Oumar Pitsaev selbst musste seinen Namen und seine nationale Identität verbergen, um zu überleben.
Im Hintergrund bleibt die Frage, ob die Erfahrung eines zerstörten Familienbundes und eines – verständlichen – Versagens an Verantwortung seines Vaters nicht auch ein Grund sein kann, vor eben dieser Verantwortung der Familiengründung zurückzuschrecken? Zugegeben, ein solches Zögern vor der Wiederkehr des unvermeidlich Gleichen generiert sich zumeist “bloss” im Unbewussten.
Es bleibt der philosophische Rat des vielleicht einzigen Vertrauten Dénis in der Dorfgemeinschaft, der überzeugt ist, verborgen zu leben sei hier die beste und vielleicht einzige Strategie.
Die letzte Kameraeinstellung in Imago ist das schnelle Vorbeileiten von Hauskulissen während einer Nachtfahrt. Auch der Aufbruch zu einem neuen Ort bleibt besser im Verborgenen. Der erste Feature-Film Pitsaevs wirft Fragen auf und stimmt nachdenklich, scheinbar private Fragen, die jedoch die ganze post-traditionelle Generation reflektieren.
Von Déni Oumar Pitsaev; Frankreich, Belgien; 2025; 109 Minuten.
Dieter Wieczorek, Cannes
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