Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern: Interview mit Stina Werenfels
Stina Werenfels’ Verfilmung des Theaterstücks von Lukas Bärfuss hat die Zuschauer der 65. Berlinale stark imponiert.
Wir haben hier (auf Französisch) schon darüber berichtet. Für den Kinostart in der Deutschschweiz veröffentlichen wir unser ganzes Interview mit der Regisseurin.
Als Doras Mutter die sedierenden Psychopharmaka ihrer geistig behinderten Tochter absetzt, erwacht die 18-Jährige aus einem Dornröschenschlaf. Dora entdeckt ihren Körper, die Sinnlichkeit, schließlich auch den Sex. Doch Doras unbeherrschte Lust auf das Leben schockiert die Eltern. Die lange Synopsis des Filmes.
Die Leistung von Victoria Schulz ist verblüffend, sie ist vollkommen glaubwürdig in der Rolle von Dora. Haben Sie viele Schauspielerinnen gecastet?
Ich hatte mich auf einen langen Casting Prozess eingestellt, aber nach 6 Wochen spielte mir meine Streetcasterin eine kleine Improvisation mit Victoria Schulz auf dem Computer ab und ich wusste: das ist sie! Ein einzigartiges Talent: Ich wollte niemand anders mehr sehen und habe alle weiteren Castings abgesagt. Meine einzige Sorge war, dass jemand anders dieses Tape auch sehen könnte…
Wie haben Sie mit Victoria Schulz die Rolle bearbeitet?
Wir haben sehr physisch gearbeitet und ganz entgegen meiner Gewohnheit nicht psychologisch. Aber da wir zwei Jahre Zeit hatten, bis der Film infolge Finanzierungsschwierigkeiten gedreht werden konnte, hatten wir viel Zeit uns Dora anzueignen, Gespräche mit Betroffenen und Fachleuten zu führen und so Dora ganz von innen heraus zu entwickeln. Mit all ihren motorischen und artikulativen Eigenheiten.
Sie gehen auf ein schwieriges Thema ein: das affektive und sexuelle Leben von Menschen mit geistigen Behinderung sowie ihr Recht an eine Privatsphäre; was eigentlich ein Grundrecht ist, wird dennoch meistens von der Gesellschaft abgelehnt. Warum haben Sie sich für dieses Thema interessiert?
Das Normative in unserer Gesellschaft entwickelt ungeheure Kräfte, obwohl jeder glaubt, er verwirkliche sich ganz individuell. Menschen mit Behinderungen stehen da ganz quer, weil sie nicht «effizient» sind. Sie lassen sich nicht vor den Karren der Oekonomie spannen und verlangen oft nach einem andern Umgang mit der Zeit. Das ist für unsere Gesellschaft ungeheuer unbequem.
Die Figur der Mutter ist zentral in der Geschichte und sehr komplex: was oder wen symbolisch vertretet sie, mit ihrer Aengste, ihrem Neid, ihrer Unsicherheit, aber auch ihrer Liebe?
Biographisch habe ich zwar eine andere Geschichte als Dora und ihre Familie, doch kenne ich die Zerrissenheit der Mutter gut: einem geliebten Menschen theoretisch alle Freiheit gewähren zu wollen, ihn dann aber entgegen aller guter Vorsätze in der Praxis schützen oder eben kontrollieren zu wollen. Dahinter beschäftigte mich stets die Frage: wen schütze ich eigentlich vor wem?
Sie haben Schwierigkeiten gehabt, den Film zu finanzieren. Warum Ihrer Meinung nach war es so schwierig?
Diese Frage habe ich mir 3 Jahre lang gestellt. Vermutlich habe ich im Drehbuch nicht die gängigen Opfervorstellungen repetiert, an die man sich gewöhnt hat, wenn es um Menschen mit Behinderung geht. Ich wollte Dora willensstark und ungebeugt zeigen. Und das provoziert offenbar ungeheuer. Der Zuschauer kann nicht mit dem Ritual der wohlmeinenden Herablassung reagieren, sondern muss sich in einer völlig neuen Diskussion zurechtfinden. Das ist offenbar schwierig, zumal auch einige Tabus verletzt werden: Sexualität und Behinderung. Behinderung und Schwangerschaft, sowie Fragen rund um die bedingungslose Mutterliebe.
Wie eng sind Sie an dem Text von Lukas Bärfuss geblieben?
Dem Kern bin ich sehr treu geblieben. Lukas Bärfuss’ Vorlage war ja auch genial. Sagen wir es so: Ich habe dem Stück eine dezidiert weibliche Perspektive gegeben.
Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern; von Stina Werenfels; mit Victoria Schulz, Jenny Schily, Lars Eidinger, Urs Jucker; Schweiz / Deutschland; 2015, 90 Minuten.
Malik Berkati, Berlin
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