Filmfest Hamburg 2022 – 30 Jahre für die Vielfalt des Films
Das Filmfest Hamburg, das vor 30 Jahren aus den alten Festivalversuchen, die aber mehr einer reinen Previewveranstaltung glichen, hervorging, dann unter seinem früheren Leiter Josef Wutz neue Konturen annahm und nun seit vielen Jahren erfolgreich von Albert Widerspiel geleitet wird, war in diesem Jahr nach zwei durch Corona bedingten verkleinerten Ausgaben wieder recht normal am Start. Die Programmauswahl des Festivalteams bot wie immer eine gute Mischung von erfolgreichen Filmen der grossen Festivals wie Cannes, Venedig und Locarno, vermischt mit Entdeckungen anderer Filme, sowie deutschen Kino- und Fernsehfilmen. Dabei standen auch diesmal Filme mit gesellschaftlich relevanten Themen und klaren politischen Aussagen im Mittelpunkt, aber auch Unterhaltsames bis hin zum Genrefilm wurde geboten. Die Filmanzahl von ca. 120 Filmen blieb im Vergleich zu Vorcoronazeiten weiter etwas verkleinert, was aber eher von Vorteil ist. Der Fokus liegt dadurch deutlich stärker auf den ausgewählten Filmen und stärkt die Aufmerksamkeit auf diese. Das sollte ruhig so beibehalten werden.
Eröffnet wurde das Filmfest mit Wir sind dann wohl die Angehörigen von Hans- Christian Schmid. Die Verfilmung des autobiografischen Romans von Johann Scherer, Sohn des entführten Jan Philipp Reemtsma, bietet eine völlig neue Herangehensweise in einem Film über eine Entführung: sie wird komplett aus Sicht der Familienangehörigen des Entführungsopfers gezeigt. Was macht das mit der Psyche von Frau und Sohn. Und es wird gezeigt wie unzulänglich Freunde agieren können, auch wenn es eigentlich gut gemeint ist. Die Machthierarchien der Polizei tun noch ein Übriges. Ein starker Auftakt, der hoffentlich auch beim Kinostart für volle Säle sorgen wird.
Zwei weitere Interessante deutsche Filme im Programm waren In einem Land, das es nicht mehr gibt von Aelrun Goette, die auf ihren eigenen Erfahrungen als Model am Ende der DDR basiert. Suzie (Marlene Burow) fällt bei der Stasi wegen eines verbotenen Buches in Ungnade, kann nicht mehr studieren und soll Facharbeiterin in einem Kabelwerk werden. Dort wird sie von einem Fotografen der berühmten Zeitschrift Sibylle entdeckt und schließlich zum Model. Und sie begegnet dem schwulen Underground- Modeschöpfer Rudi (Sabin Tambrea). Die Geschichte der drei Protagonisten ist sehr unterhaltsam, zeigt aber auch mit welchen Problemen nicht staatskonforme Menschen in der DDR kämpfen mussten. Der Film läuft bereits im Kino.
In Piaffe von Ann Oren muss Eva den Job einer Geräuschemacherin beim Film von ihrem kranken Bruder übernehmen, um einen Auftrag nicht zu verlieren. Sie ist unsicher, und hat Probleme mit den Pferdegeräuschen für einen Werbespot. Als ihr ein Pferdeschwanz über dem Steissbein wächst, wird sie immer selbstbewußter und meistert ihren Job. Sie geht eine Beziehung zu einem Botaniker ein, der auf Unterwerfungsspiele steht. Eine seltsame Fantasygeschichte, die Faszination aufbaut und ein Plädoyer fürs Anderssein bildet. Hauptdarstellerin Simone Bucio trägt den gesamten Film und ist eine grosse Entdeckung.
Der iranische Film bildet beim Festival seit jeher einen Schwerpunkt. Jafar Panahi, im Iran wegen seiner systemkritischen Filme inhaftiert, war mit seinen Filmen schon häufiger in Hamburg zu Gast. In seinem neuen, in Venedig prämierten Film No Bears spielt der Regisseur sich selbst. Er darf das Land nicht verlassen und am Drehort nicht selbst sein. Er dreht einen neuen Film über Computeranweisungen an seinen Assistenten und weigert sich zu emigrieren. Sein Film handelt über eine Liebesgeschichte zweier Iraner, die das Land verlassen wollen. Durch die Umstände endet es in einer Tragödie. Gleichzeitig spielt sich in dem Kleinen Grenzdorf, in dem Panahi mit seinem Computer sitzt, auch dort eine Liebestragödie ab. Hier verursacht durch alte, längst überholte Riten, die eigentlich längst der Vergangenheit angehören sollten. Der Film schält seine Kritik durch verschiedene, sich überlagernde Stränge heraus.
In Beyond The Wall von Vahid Jalilvand geht es um den fast erblindeten Ali. Nur noch in seiner Wohnung mit Selbstmordgedanken dahinvegetierend, wird er vom Hausmeister und Regierungsagenten überwacht, die herausfinden wollen, wo sich die Frau, von der er mysteriöse Briefe erhält, aufhält. Als eine Frau in seinem Apartment auftaucht, die von der Polizei wegen angeblichen Mordes gesucht wird, wird die Hilfe für sie, die nur demonstriert hatte, das die Fabrik, die seit Monaten den Lohn nicht zahlt, endlich zahlen soll, zu seiner neuen Lebensaufgabe. Aber ist alles wirklich so, wie man es hier sieht? Der Film verpackt Kritik am Staat in einer Kafkaesken Geschichte, in der man als Zuschauer in die Irre geführt wird, was zumindestens diskussionswürdig ist.
Der Orrizontigewinner von Venedig World War 3 von Houman Seyedi stellt keine Kritik am Staat, sondern am menschlichen Verhalten in den Mittelpunkt. Shakib ist armer Tagelöhner und wird als Helfer bei den Dreharbeiten eines Films über Hitlers Greueltatan engagiert. Als der Hitlerdarsteller stirbt, wird er als Ersatzschauspieler engagiert. Doch als er in einem Filmhaus eine von ihrem Zuhälter verfolgte Freundin versteckt, kommt es zu einer Katastrophe. Der Film kommt etwas zäh in Schwung, bietet aber am Schluss eine der konsequentesten und größten Rachesequenzen im Film.
Der beste „ iranische Film“ allerdings war der schwedische Cannesbeitrag Holy Spider von Ali Abbasi. Passend zu den momentanen Frauenprotesten gegen die iranische Regierung wird hier der Umgang mit Frauen im Iran und der religiöse Fanatismus angeprangert. Journalistin Rahimi geht dem Fall eines Serienkillers an Prostituierten nach, die ein Mann begeht, der die heilige Stadt Maschhad von Dreck befreien will. Der Film funktioniert als guter Thriller, aber auch als kritischer Arthausfilm. Obwohl die Mordszenen sehr drastisch gezeigt werden, schockt vor allem das Ende des Films, nachdem der Killer längst gefasst ist. Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi gewann in Cannes völlig zu Recht den Darstellerpreis. Der Film startet in Deutschland am 12.1.23.
Drei Filme des Programms beschäftigten sich mit der Geschichte Südamerikas. Die chilenische, mittlerweile in Deutschland lebende Schauspielerin Manuela Martelli erzählt in 1976, ihrem erstklassigen Erstlingsfilm als Regisseurin, die Geschichte der gutsituierten Carmen. In der Küstenstadt Las Cruces überwacht sie die Renovierung des Strandhauses ihrer Familie. Als der dortige Pfarrer sie bittet, sich um einen heimlich beherbergten Verletzten zu kümmern, gerät ihr Weltbild ins Wanken. Dieser wird von Pinochets Geheimpolizei verfolgt. Als sie beschließt, ihm auch mit Botengängen zu helfen, bringt sie auch sich und den Pfarrer in Gefahr. Denn längst wird auch sie überwacht. Ein starker Film über üble Zeiten, der die unheimliche Lebensatmosphäre der damaligen Zeit sichtbar macht.
Ein weiterer Film über diese Zeit kam vom argentinischen Starregisseur Santiago Mitre. Mitre, dem eins der beiden diesjährigen Porträts gewidmet wurde, zeigt in Argentina,1985 den Prozess gegen Generäle der Militärjunta, die zwischen 1976 und 1983 Greueltaten und das Verschwinden tausender Menschen zu verantworten hatten. In Form eines Politthrillers wird der Aufbau des Teams und die Vorbereitung des Prozesses gezeigt, der die Anwälte unter ständige Bedrohung stellt und mehrere Tote fordert. Anwalt Strassera wird gewohnt Klasse von Lateinamerikas Superstar Ricardo Darin gespielt. Der Film läuft ab 20.10. auf Amazon Prime.
Der dritte Film zum Thema war die neue Dokumentation von Patricio Guzman My Imaginary Country. Guzman, der schon diverse Dokumentarfilme zum Thema drehte, verknüpft die Vergangenheit Chiles diesmal mit den Demonstrationen 2019, in der Massen die politischen Ereignisse in Chile in den letzten Jahren anklagen. Hier wird ein hoffnungsvoller Ausblick in die Zukunft geworfen. Eine gute Ergänzung zu den beiden Spielfilmen, die die Vergangenheit unter die Lupe nehmen.
Das Santiago Mitre durchaus auch andere Filme machen kann, bewies seine französische Kriminalkomödie mit Splattereinlagen Petite fleur, die ebenfalls in seiner Hommage gezeigt wurde und viel Spass beim Zusehen macht.
Zwei ähnlich gelagerte Filme zum Thema Prostitution Jugendlicher waren ebenfalls im Programm. Nach Studien liegt das Durchschnittsalter von jungen Mädchen, die in die Prostitution abrutschen bei 15 Jahren. Der amerikanische Film Palm Trees and Power Lines von Jamie Dock zeigt die 17jährige Lea, die sich in einen doppelt so alten Mann verliebt, der sie zur Prostituierten macht. Selbst als sie von ihm losgekommen ist, kehrt sie wieder zu ihm zurück. Der noch stärkere Film zum Thema, der kanadische Film Noemia Says Yes von Genevieve Albert erzählt von der 15jährigen Noemie, die von ihrer Mutter verstossen aus dem Jugendheim ausbricht, um zu einer Freundin zu gehen, von der sie nicht weiß, dass sie für ihre „Freunde“ für Geld mit Männern schläft. Zunächst von dem Luxusleben fasziniert, kann sich jedoch wieder aus der Szene lösen.
Stone Turtle von Woo Ming Jin aus Malaysia/Indonesien bietet eine ungewöhnliche Geschichte vor schöner Naturkulisse. Zahara flieht aus Indonesien auf eine abgelegene Insel in Malaysia nachdem ihre Schwester ermordet wurde. Dort fühlt sie sich wohl, in der Gemeinschaft von anderen Frauen. Als ein angeblicher Schildkrötenforscher auf die Insel kommt, merkt sie schnell, dass seine Story nicht stimmt. Spannend mit exotischen Riten und Tanzeinlagen, sowie einiger recht blutiger Szenen, weiss der Film zu überzeugen.
All That Breathes von Shaunak Sen porträtiert zwei Brüder in Neu-Delhi, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit ihrem Vogelkrankenhaus Tiere zu retten. Aber auch anderen Tieren wird mit der Kamera gefolgt. Der Dokumentarfilm punktet mit faszinierenden Aufnahmen der Tierwelt in einer großen Stadt. Die Kamera führte der Berliner Kameramann Ben Bernhard.
Der aserbaidschanische Film Banu von Regisseurin und Hauptdarstellerin Tahmina Rafaella zeigt den Kampf einer Mutter um ihr Kind. Als der sie mishandelnde Mann bei der Scheidung das alleinige Sorgerecht für den Sohn haben will, muss sie Zeugen für seine Handlungen bringen. Doch das ist schwierig, da er reich ist und viele von ihm abhängig sind. Ein großer „kleiner“ Film, der beweist, dass es gutes Kino auch in Ländern gibt, die nicht gerade bekannt für gute Filme sind.
Der tschechische Film Victim von Michal Blasko handelt von einer ukrainischen Mutter, die mit ihrem Sohn in einer tschechischen Kleinstadt lebt. Als dieser überfallen wird und im Krankenhaus landet beginnt eine Welle von Rassismus. Doch seine Geschichte war gelogen. Doch wie nun herauskommen aus der sich entwickelnden Spirale mit falschen Tatsachen, Romaverfolgung und der Angst vor Bestrafung durch die Behörden. Doch als sie von Rechtsradikalen institutionalisiert werden soll, muss sie gegensteuern.
Einige der besten Filme, kamen wie momentan bei fast jedem Filmfestival aus Frankreich.
Les Cinq diables (The Five Devils) von Lea Mysius ist eine Fantasy-Geschichte par excellence. Die Regisseurin, die vor einigen Jahre mit Ava bekannt wurde, erzählt von Vicky, die jeden Geruch erkennt und reproduzieren kann. So sammelt sie den Geruch ihrer Mutter in Gläsern. Als ihre lange verschollene Tante auftaucht und sie auch deren Duft sammelt, wird sie in die Zeit der Jugend ihrer Mutter zurück katapultiert und lernt vieles über die Geheimnisse ihrer Eltern, aber ist auch der Auslöser der Ereignisse in der Vergangenheit. Ein starker Film mit Schauspielern wie Adele Exarchopoulos, Daphne Patakia und Altstar Patrick Bouchitey.
La Nuit du 12 (The Night of the 12th) von Dominik Moll ist vordergründig ein Thriller über die Ermittlungen des Mordes an einem Mädchen, das lebendig verbrannt wurde. Das ist spannend und führt auf viele Spuren, aber eigentlich geht es dem Regisseur um das Zeigen von Polizeiarbeit, sich entwickelnden Obsessionen und den Preis, den Polizisten in ihrem eigenen Leben zahlen. Da verwundert es auch nicht, dass das Ende offen bleibt.
Den NDR- Nachwuchspreis gewann die Regisseurin Emmanuelle Nicot für ihren Film Dalva. Das zwölfjährige Mädchen kommt ins Jugendheim, nachdem ihr Vater wegen sexueller Belästigung Minderjähriger verhaftet wurde. Doch für das Mädchen war ihr bisheriges Leben die Normalität. So ist es ein langer Prozess, bis sie versteht, dass sie eigentlich noch ein Kind und nicht auf die Weisungen ihres Vaters angewiesen ist. Die junge Hauptdarstellerin Zelda Samson spielt ihre Rolle äußerst überzeugend.
Nos Cérémonies (Summer Scars) von Simon Rieth handelt von der merkwürdigen Beziehung der Brüder Noe und Tony. Beim Spielen an der Küste stürzt Tony von der Klippe und ist eigentlich tot. Doch er wird ins Leben zurückgeholt- durch den Kuss seines Bruders. Als zehn Jahre später der Vater stirbt kehren sie ins Haus an der Küste zurück. Dort treffen sie die Nachbarstochter Cassandre wieder, in die beide schon als Kinder verliebt waren. Doch es geht Tony immer schneller schlechter. Noe muss ihn jedes Mal aufs Neue töten und wieder ins Leben zurückholen. Doch der Kampf um Cassandre wird größer. Eine fantastische Geschichte, in die man sehr viel Verschiedenes hineininterpretieren kann.
Les Pires (The Worst Ones) von Lise Akoka und Romane Gueret gewann in Cannes den Preis für den besten Film der Sektion Certain Regard. Es beginnt mit Castingaufnahmen für einen Film über Jugendliche in einem französischen Problemviertel. Ein flämischer Regisseur will dort seinen Film drehen und man beobachtet nun die Probleme bei den Dreharbeiten und das Leben der Schauspieler. Man merkt eigentlich nur, das es ein Spielfilm und keine Dokumentation ist, weil der Regisseur im Film vom belgischen Schauspieler Johan Heldenbergh verkörpert wird.
Novembre von Cedric Jimenez (Bac Nord) zeigt die fünftägige Suche nach den Tätern der Attentate vom 13.November2015 in der Diskothek Bataclan und parallel an anderen Pariser Orten. Jean Dujardin, Anais Demoustier und Sandrine Kiberlain verkörpern einige der Polizisten von der Antiterroreinheit SDAT, denen man detailliert bei der Arbeit zusehen kann. Eine weitere wichtige Rolle spielt der französische Jungstar Lyna Khoudri, die die Polizei als Zeugin auf die richtige Spur bringt. Obwohl man die Ereignisse und das Ergebnis ja kennt, ist der Film sehr spannend geworden.
Als Abschlussfilm wurde Le bleu du caftan (Das Blau des Kaftans) gezeigt, der demnächst auch ins Kino kommt. Halim und Mina sind lange verheiratet und haben ein Geschäft für traditionelle Kaftane, die er als Schneider näht. Sie sind glücklich, obwohl er niemandem sagen kann, dass er homosexuell ist. Dies wird in Marokko immer noch mit Gefängnis bestraft. Doch dann verliebt er sich in seinen neuen Gesellen und seine Frau erfährt, dass sie bald sterben wird. Ein anrührender Film über Liebe und Freundschaft von der Regisseurin von Adam.
Nach dem guten Programm in diesem Jahr kann man sich schon auf das Festival im nächsten Jahr freuen.
Harald Ringel, Hamburg
j:mag Tous droits réservés