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Filmfest Hamburg 2024 –  Ein Neuanfang, der nichts vermissen liess

Im ersten Festivaljahr bewies die neue Festivalleiterin Malika Rabahallah ein gutes Händchen für ein starkes Programm und eine angenehme Festivalatmosphäre. Zusammen mit den Programmverantwortlichen Kathrin Kohlstedde, Roger Alan Koza und Jendrik Walendy, die bereits zum bewährten Team unter ihrem Vorgänger Albert Wiederspiel gehörten, wurden vor allem Highlights von den grossen Festivals in Cannes, Venedig und Locarno ausgewählt. Die Filme waren grösstenteils von hoher Qualität und boten dem Publikum die Gelegenheit, viele der wichtigsten Filme des Jahres lange vor ihrem regulären Kinostart zu sehen – oder überhaupt die einzige Chance, sie zu sehen. Dadurch gab es jedoch so viele gute Filme, dass ich vieles, das ebenfalls hätte erwähnt werden können, weglassen musste.

Eröffnet wurde das Festival mit dem französischen Film Könige des Sommers (Vingt Dieux, hier die auf Französisch veröffentlichte Kritik während des Festivals von Cannes) von Louise Courvoisier. Komplett mit Laiendarstellern gedreht ist er eine Tragikkomödie um einen Jungen, der sich nach dem Unfalltod seines Vaters um seine kleine Schwester und den heruntergekommenen Hof im französischen Jura kümmern muss. Er möchte das Preisgeld von 30000 Euro für den besten Comte-Käse gewinnen. Doch dafür braucht er bestimmte Milch, die er auf dem Hof seiner neuen Freundin stiehlt. Auch ansonsten gibt es viele Schwierigkeiten bei dem Versuch. Und schliesslich verliebt er sich auch noch wirklich in die Jungbäuerin. Ein idealer Eröffnungsfilm, da er, was selten geworden ist eine normale Länge von 90 Minuten hatte und trotz dramatischer Szenen ein sehr positives Feeling bietet. Und die Laiendarsteller wirklich gute darstellerische Leistungen bieten. Vielleicht auch gerade weil sie einfach vieles tun, wie sie es im richtigen Leben auch machen, zum Beispiel bei der Geburt eines Kälbchens. Der Film läuft in Deutschland ab dem 6.2.25 im Kino.

Emilia Perez von Jacques Audiard
Foto mit freundlicher Genehmigung Filmfest Hamburg

Dieses Jahr gab es zwei Douglas Sirk-Preise: zum einen an die englische Regisseurin Andrea Arnold, die gesundheitsbedingt absagte (deren Film Bird eher umstritten war) und an den französischen Drehbuchautor und Regisseur Jaques Audiard. Der kam mit seinem bereits zweifach in Cannes prämierten Film Emilia Perez. Audiard, der in den letzten Jahren sehr viele verschiedenartige Filme machte, zeigt diesmal die Geschichte eines mexikanischen Kartellbosses, der sich von allem lossagen und sich endlich zu einer Frau umoperieren lassen will. Dazu engagiert er eine unterforderte Anwältin (Zoe Saldana), die ihm mit der Organisation helfen soll. Alles klappt perfekt und so wird aus Manitas del Monte Emilia Perez (Karla Sofia Gascon). Doch er hat Sehnsucht nach seiner früheren Frau (Selena Gomez) und seinen Kindern. So muss Anwältin Rita wieder handeln. Doch auch seine Kartellvergangenheit hat Nachwirkungen. Das Schauspielerensemble hat den Preis in Cannes sehr verdient gewonnen und die Mischung des Films aus Drama, Krimi und Musical ist ungewöhnlich und funktioniert sehr gut (hier die auf Französisch veröffentlichte Kritik während des Festivals von Cannes). Deutscher Kinostart: 28.11.24.

Vena von Chiara Fleischhacker erzählt von der Drogensüchtigen Jenny (Emma Nova), die ein Kind von ihrem ebenfalls drogensüchtigen Freund Bolle (Paul Wollin) erwartet. Mit Hilfe ihrer neuen Hebamme (Friederike Becht) versucht sie von den Drogen loszukommen und tritt sogar eine Gefängnisstrafe an. Doch die Mühlen der Justiz sind nicht vorauszusehen: Sie bekommt keinen  Mutter-Kindplatz im Strafvollzug und soll ihre Tochter zunächst abgeben. Ein gut gespieltes Drama, dem Cinema Verite verpflichtet, zeigt es unter anderem eine ungeschönte Geburt und wie viel von persönlicher Hilfe und Verständnis abhängt. Start ab 28.11.

Der spanische Regiestar Iciar Bollain zeigt in I Am Nevenka die auf Tatsachen beruhende Geschichte der 24 jährigen Nevenka Fernandez, die an einer Karriere in der Politik arbeitet. Der örtliche Bürgermeister scheint sie zunächst selbstlos zu unterstützen. Als sie seinem Werben zunächst nachgibt, merkt sie schnell, das dies ein Fehler war. Nun muss sie mit seinen immer schlimmer werdenden Belästigungen leben. Dies geht von Telefonterror über immer grösser werdende Lügen bis zum Rufmord. Zunächst macht es sie immer Kränker, aber mit Hilfe ihres Freundes und eines Anwalts bringt sie ihn und eigentlich auch den ganzen Regierungsapparat vor Gericht.

Souleymane’s Story (L’Histoire de Souleymane, hier die Kritik und das Interview mit dem Regisseur auf Französisch lesen) von Boris Lojkine erzählt von einen Essenslieferanten In Paris. Als Fahrradkurier, der als Asylsuchender eigentlich nicht arbeiten darf, ist er ständig von seinen Chefs und seinem angeblichem Freund, der seine Sozialversicherungsnummer borgt abhängig. Und ständig gibt es die Angst vor Polizeikontrollen, vor allem nachts, wenn man wegen Lieferunwegbarkeiten nicht rechtzeitig in der Notunterkunft ist. Der Film zeigt unter was für Druck und Ausbeutungen ein Asylant im (hier) französischen System steht.

Die Goldene Palme von Cannes bietet Unterhaltung pur. Regisseur Sean Baker bleibt mit Anora seinem Lieblingsthema, dem Erotik und Pornomilieu treu. Nach seinem Hit Red Rocket nun die Geschichte von Anora, einer Stripperin in Brooklyn in einem Sex-Club. Die lernt im Club einen russischen Milliardärssohn kennen, mit dem sie in der Luxusvilla seiner Eltern eine heisse Woche verlebt. Doch der Sohn Ivan will mehr und heiratet sie in Las Vegas. Die Eltern wollen dies unter allen Umständen verhindern und die Ehe annulieren lassen. Doch Ivan flieht vor den Gehilfen der Eltern und lässt sie einfach im Appartment sitzen. Was folgt ist eine Verfolgungsjagd nach Ivan, bei der Anora entdecken muss, das ihr Ivan es nicht sehr ernst gemeint hat.Und schliesslich hat sie auch Ehre im Leib. Ein Film dem man seine 138 Minuten Laufzeit nicht anmerkt und der vor allem von seiner Hauptdarstellerin Mikey Madison lebt. Die trägt den ganzen Film und ist in allem höchst überzeugend und sympathisch. Der Film startet am 31.10.2

The Apprentice – The Trump Story von Ali Abbasi (hier die auf Französisch veröffentlichte Kritik während des Festivals von Cannes ) zeigt den Werdegang des jungen Donald Trump in den 70er Jahren. Als Sohn eines ultrastrengen Vaters (Martin Donovan) will Trump (Sebastian Stan) mehr sein als nur der Mieteintreiber in Vaters Diensten. Er will ein altes abbruchreifes Hotel im Zentrum des verödenden New Yorks abreissen und  ein neues Luxushotel bauen. Als er in einem In-Club den Anwalt Roy Cohn (Jeremy Strong) kennenlernt, scheinen seine Ziele in greifbare Nähe gerückt. Cohn schwört ihn schon damals auf Regeln ein, die Trump bis heute einhält (Nie einen Verlust zugeben, …).Auch die Beziehung und Ehe mit dem Balkan-Model Ivana (Borat-Star Maria Bakalova) wird thematisiert und wie er sie und andere Menschen einfach fallen lässt wird gezeigt. So ergeht es auch dem Mann der ihn gross gemacht hat, Roy Cohn, als dieser an Aids stirbt. Auch wo er den Spruch Make America great again her hat kommt vor. Die neue am 17.10 im Kino startende Version ist etwas länger als die Cannesversion, die Affäre mit Stormy Daniels ist jetzt noch kurz drin. Schon damals ein unangenehmer Mensch, der nur für sich selbst gutes will.

Spirit In The Blood der kanadischen Regisseurin Carly May Borgstrom bietet eine neue weibliche Version des Stephen King-Klassikers Stand By Me von Regisseur Rob Reiner. Emerson (Summer H. Howell) zieht mit ihren Eltern in eine abgelegene Gemeinde Kanadas. Diese wird von einem Prediger (Michael Wittenborn) beherrscht. Sie freundet sich mit der rebellischen Delilah (Sarah-Maxine Racicot) an. Als eine Mädchenleiche gefunden wird, soll es ein Raubtier gewesen sein. Doch Emerson ist sich sicher, sie wurde auch von einem Monster verfolgt. Immer mehr Mädchen schliessen sich zusammen, um das Monster  (auch mit übernatürlichen Beschwörungen) zu fassen. Doch alle bis auf Emerson und Delilah geben auf, als der Priester sie dazu bringt. Doch das kostet beide beinahe ihr Leben. Die beiden Mädchen spielen gut und Michael Wittenborn ist hier mal in einer völlig anderen Rolle zu sehen als gewöhnlich. Eine interessante Neuauflage von Stand By Me, bei der man über weite Stecken nicht weiß, ob alles nur in der Einbildung existiert und ob es die Mädchen in eine Massenpsychose treibt. Ein interessante Variante. Start ab 7.11.

Grand Tour von Miguel Gomes
Foto mit freundlicher Genehmigung Filmfest Hamburg

Grand Tour von Miguel Gomes ist ein faszinierender Reisefilm weitgehend in Schwarz/Weiss. In Burma 1917 wartet ein Kolonialbeamter auf die Ankunft seiner Braut aus Rangun. Dort er bekommt Zweifel und beginnt vor ihr zu fliehen. Er flüchtet nach Singapur, Thailand, Vietnam und weiter. Und vermisst sie schließlich immer mehr. Nun folgt man der Verlobten Molly, die ihm komplett nachreist und ihn mehrfach knapp verpasst. Ein faszinierender Film zum Anschauen, bis zu seinem traurigen Ende. Der Streamingdienst Mubi hat den Film gekauft, wird ihn aber hoffentlich vorher ins Kino bringen.

Magnus von Horns neuer Film Das Mädchen mit der Nadel führt uns ins Kopenhagen nach dem zweiten Weltkrieg. Der Mann der Fabrikarbeiterin Karoline (Vic Carmen Sonne) gilt seit langem als vermisst, als sie die Beziehung zu ihrem Fabrikanten eingeht.Der will sie heiraten. Als ihr Mann mit völlig deformiertem Gesicht auftaucht, schickt sie ihn weg. Doch aus der Hochzeit wird nichts. Die Übermutter des Fabrikanten verhindert die Hochzeit und wirft sie raus. Schwanger, versucht sie mit einer Stricknadel abzutreiben. Doch Dagmar (Tryne Dyrholm) verhindert dies. Und sagt ihr sie wird eine gute Familie für das Kind finden – gegen eine Gebühr. Als sie diese nicht zahlen kann, wird sie als Gehilfin in Dagmars Süssigkeitenladen angestellt. Unwissend das Dagmar die Kinder umbringt. Ein starkes Stück Kino in Schwarz/Weiss, ebenfalls bei Mubi. Hier steht ein Kinostart aber bereits fest: 9.1.25

Animale von Emma Benestan ist eine faszinierende Mischung aus Western, Stierkampffilm, Fantasy und Body-Horror. Hat auch gerade einen Hauptpreis beim Fantasyfilmfest in Sitges gewonnen. In der Carmargue hat der Stierkampf Tradition. Aber ist eine Männerdomäne. Nejma trainiert dort als einzige Frau. Nach einer Nacht der Siegesfeier mit mehreren ihrer Kollegen weiß sie nicht mehr was wahr, stellt aber merkwürdige Spuren an ihrem Körper fest. Als mehrere Männer brutal getötet werden, sucht man nach einem frei laufenden Stier und tötet einen unschuldigen Stier als Sündenbock. Doch das Morden geht weiter – und Nejma erinnert sich plötzlich wieder an die Nacht. Ein starker Film, der hoffentlich ins Kino kommt.

Drei Kilometer bis zum Ende der Welt des rumänischen Regisseurs Emanuel Parvu erzählt die Geschichte von Adi. Ein schwuler 17jähriger, den die Söhne eines reichen Dörflers und Freund des Bürgermeisters und Polizisten, zusammenschlagen, weil sie ihn mit einem Touristen beobachtet hatten. Ein Lehrstück über die Schwulenfeinlichkeit und Korruption in Rumänien. Selbst die eigenen Eltern schließen ihn wegen den Nachbarn eher ein, als zu ihm zu stehen. Und führen ihn gefesselt zum Dorfgeistlichen, der einen Exorzismus an ihm durchführt. Kommt ins Kino, noch ohne Startermin.

Zu empfehlen sind die beiden Trickfilme aus dem Michel-Kinderfilmfest: der neue Animationsfilm von Ute von Münchow-Pohl: Die Heinzels – Neue Mützen, neue Mission, der die  Abenteuer der Kölner Heinzelmännchen fortführt, diesmal mit verschollenen Verwandten aus Wien und die Fortsetzung Niko – Reise zu den Polarlichtern, der die Geschichte vom kleinen Rentier des Weihnachtsmannes rund um einen Schlittenraub zeigt.Im Kino ab 24.12. bzw. 7.11.24.

Abschlussfilm des Festivals war der Goldene Löwe aus Venedig: The Room Next Door von Pedro Almodovar. Sein erster in englisch gedrehter Langfilm ist ein Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben. Ingrid (Julianne Moore) und Martha (Tilda Swinton) waren früher enge Freunde. Ingrid, jetzt Autorin, erfährt während einer Signierstunde dass ihre alte Freundin wegen Krebs im Krankenhaus ist. Als sie sie besucht ist sie noch guter Dinge, aber als die Behandlung nicht anschlägt, bittet Martha sie einen Monat mit ihr in ein Ferienhaus zu ziehen. Dort wird sie eine Todeskapsel, die sie aus dem Darknet hat, nehmen , um ihren Leben schmerzfrei ein Ende zu setzten. Sie möchte ihre letzten Tage noch schön mit Ingrid verbringen und dann von ihr gefunden werden. Ein berührender Film zu einem wichtigen Thema mit herausragenden Schauspielerinnen.

Fazit: 10 Tage Filmfestival mit den herausragenden Filmen der grossen A-Festivals. Da bleibt es nur sich zu wünschen, das auch das Festival 2025 wieder so gut gelingt.

Harald Ringel, Hamburg

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Harald Ringel

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