JFBB2024 : 30. Jüdisches Filmfestival Berlin-Brandenburg – Spektrum der Vielfalt jüdischen Filmschaffens in Zeiten von erstarkendem Antisemitismus
Das Jubiläumsfestival bot wie schon seit seinem Beginn vor dreissig Jahren auch in diesem Jahr wieder die volle Bandbreite mit seinen Wettbewerben Spielfilm und Dokumentarfilm und seinen Nebensektionen.
Den Spielfilmwettbewerb gewann der deutsche Film Südsee von Henrika Kull. Die Deutsche Anne (Liliane Amuat) und der Israeli Nuri (Dor Aloni ) verbringen einige Ferientage im Haus seiner Eltern. Vor allem der Swimmingpool wird zum Zentrum der Tage. Ihre Beziehung wird enger, aber gleichzeitig hört man Raketenexplosionen in der Nähe. Die Bedrohung ist gegenwärtig, auch wenn das Raketenabwehrsystem funktioniert. Der Film ist solide gemacht und vermittelt seine Botschaft subtil. Dennoch war die Verleihung des Hauptpreises überraschend, da es einige deutlich stärkere Filme gab.
Eine lobende Erwähnung bekam der Eröffnungsfilm des Festivals A Good Jewish Boy (Le Dernier des Juifs) des französischen Regisseurs Noe Debre. Bellisha (Michael Zindel) wohnt mit seiner Mutter Gisele (Agnès Jaoui) in einem heruntergekommenen Vorort von Paris. Sie sind die letzten Juden im Quartier. Die Mutter liebäugelt seit langem damit, in ein anderes Viertel zu ziehen. Als der letzte koshere Laden schliesst, will sie es nun endlich tun. Doch ihr Sohn ist nicht begeistert. Lebt er mit den arabisch-stämmigen Bewohnern, obwohl von ihnen belächelt, friedlich zusammen. Und dann ist da noch seine Bett-Freundin Mira (Eva Hualt), zwar verheiratet, aber gut mit ihm harmonierend. Als seine Mutter stirbt, muss er eine Entscheidung treffen. Michael Zindel stand vor dem Film noch nie vor der Kamera und wurde privat vom Regisseur entdeckt. Inzwischen macht er sich als Comedian einen Namen. Der Film konnte erst finanziert werden, als die Starschauspielerin/ Sängerin/ Regisseurin Agnès Jaoui an Bord kam. Die hatte zuvor noch nie eine jüdische Rolle gespielt, mochte aber das Drehbuch. Erst nachdem Angehörige von ihr am 7.10. bei der Terrorwelle der Hamas entführt wurden, wurden ihre jüdischen Wurzeln bei der französischen Bevölkerung bekannt. Der Film wurde für eine kleine Produktion in Frankreich mit 200000 Zuschauern ein Erfolg, überraschenderweise vor allem in Vorortkinos, wo in dortigen Multiplexkinos solche Filme normalerweise nicht gezeigt werden.
Mit Home zeigt der israelische Regisseur Benny Fredman seine persönliche Geschichte im ultra-orthodoxen Viertel La Guela in Jerusalem. Er, hier Yair genannt, ist verheiratet und glücklich mit seiner Frau. Als Tochter eines Rabbis liess dieser die Hochzeit nur zu, weil er Talmudstudent war und dabei bleiben wollte. Doch Yair fühlt sich dort fehl am Platz und will einen Computerladen eröffnen. Als er dies tut, beginnen die Probleme. Es gibt einen religiösen Rat im Viertel, dessen Weisungen alle Folge zu leisten haben. Er darf keine Geräte mit Radio oder Internet verkaufen, da dies von der Religion ablenken würde. Und er muss monatlich 6000 Schekel an den Rat bezahlen, für einen Überwacher, der ständig im Laden steht. Und seine schwangere Frau hätte es lieber, wenn er weiter den Talmud studieren würde. Als er den Laden vergrössert und die Forderungen immer schlimmer werden, bricht ein Kampf auf Leben und Tod aus. Da er nicht schliessen will, soll sein Laden angezündet werden. Der Film ist schockierend. Wer hätte gedacht, dass religiöse Rabbiner wie die Mafia quasi Schutzgeldzahlungen fordern und zu kriminellen Methoden wie Brandstiftung und Körperverletzung greifen. Das betrifft zwar nur 2 % der Ultraorthodoxen, wie der Regisseur sagte, aber das ist übel genug. Der Regisseur machte nach seinem Krankenhausaufenthalt erfolgreich einen Laden in einem anderen Viertel auf und lebt dort bis heute mit seiner Familie. Dann sattelte er zum Filmemacher um, und zeigt mit Home seinen dritten erfolgreichen Film.
Less Than Kosher von Daniel am Rosenberg aus Kanada erzählt die Geschichte von Viv. Die ist Sängerin, die einst eine Schallplatte machte, mit religiösen Ideen und Einschränkungen beim Essen nichts zu tun haben will und eine Synagoge seit Ewigkeiten nicht mehr betreten hat. Als sie ihren Job verliert und zurück ins Haus ihrer Mutter, ihrer Halbschwester und ihres Stiefvaters zieht, lernt sie den Sohn des Rabbis kennen. Der ist sehr weltlich eingestellt und steht vor seiner Hochzeit, was sie anfangs nicht weiss. Sie verlieben sich immer mehr ineinander. Und der Rabbi macht sie zur Kantorin, solange der nicht da ist. Schliesslich kann sie gut singen. Eigentlich will sie das nicht, macht es aber schliesslich doch. Als sie just zur Bat Mizwa ihrer geliebten Halbschwester wegen eines neuen Plattenvertrags nach New York kommen soll, verlässt ihr Freund seine Frau und will mit ihr nach New York gehen. Nun muss sie entscheiden, was ihr wichtiger ist. Ein Film, der grossen Spass bereitet und auch einige musikalische Gesangseinlagen enthält.
In Running on Sand von Adar Shafran flüchtet ein illegaler Flüchtling im Flughafen vor seiner Abschiebung. Als er von Presse und dem Leiter eines ziemlich erfolglosen Fussballvereins für den neuen Spieler aus Afrika gehalten wird, nutzt er seine Chance, um vom Flughafen wegzukommen. Doch er hat keine Ahnung von Fussball. Als die Tochter vom Chef dahinterkommt, ist es zu spät, ohne Schaden für den Verein davonzukommen. Mit Tricks klappt es einige Zeit, aber die Polizei ist immer noch gefährlich. Eine gelungene Mischung aus Komödie und sympathischer Flüchtlingsgeschichte.
Echtes Starkino bot The Blond Boy From The Casbah (Le Petit Blond de la Casbah). Frankreichs Regisseur Alexandre Arcady erzählt mithilfe seiner früheren Lebensgefährtin Diane Kurys und seinem Sohn, dem bekannten Horrorregisseur Alexandre Aja, seine Lebensgeschichte als Junge mit seiner Familie in Algerien in den letzten Jahren vor der Lossagung Algeriens von Frankreich. Die jüdische Familie, die mit seinem Vater, der aus Ungarn emigrierte (gespielt von Christian Berkel, der Arcadys echtem Vater sehr ähnlich sehen soll) lebt in einem Haus mit Leuten verschiedenen Ethnien zusammen. Probleme macht eigentlich nur seine Arbeitslosigkeit. Die Mutter wird von Marie Gillain gespielt und auch französische Stars wie Françoise Fabian, Pascal Elbe oder Valerie Kaprisky sind dabei. Eine anrührende und nostalgische Geschichte.
Generation 1.5 von Roman Shumanov zeigt, wie in den 90er Jahren 1 Million russische Emigranten nach Israel gingen. Konnte man anfangs noch in andere Länder wie Amerika emigrieren, war das bald nur noch nach Israel möglich. Doch dort begegnete man ihnen meistens nicht sonderlich freundlich oder sogar feindselig. Waren sie in Russland die unerwünschten Juden, waren sie nun die unerwünschten Russen. Der Film zeigt den Lebensweg einiger Kinder dieser Auswanderer und zeigt ihre Lebenswege nach, darunter die des Regisseurs und einiger seiner Freunde, die teilweise auch Co-Regie führten. Viele zogen auch weiter in andere Länder wie Kanada oder Deutschland. Grosses Problem bildeten die nicht vorhandenen Jobs. Waren viele in Russland Architekten, Bankdirektoren oder Ärzte, waren sie hier nun Reinigungskräfte oder Pflegepersonal. Und die Kinder blieben häufig unter sich oder wählten das andere Extrem: totale Assimilation und Leugnung ihrer russischen Herkunft. Interessant und durchaus auch auf viele Flüchtlinge anderer Nationen oder anderen Glaubens übertragbar.
Rabbi on the Block von Brad Rothschild porträtiert Tamar Manasseh. Sie ist eine schwarze Frau und Jüdin. Und wohnt in Englewood, einem der sozialen Brennpunkte in Chicago. Sie übt sich in Nachbarschaftshilfe und versucht, etwas gegen die Diskriminierung zu tun. Als Schwarze hat sie es neben den normalen rassistischen Problemen auch mit dem Zweifel am Jüdischsein als Schwarze zu tun. Und sie will Rabbinerin werden, was Probleme mit den Rabbinern bedeutet, die keine weibliche Rabbinerin im Ordinariat wollen. Ein Film über eine angenehm positive Person, die ein echtes Vorbild darstellt.
Revenge: Our Dad the Nazi Killer von Danny Ben-Moshe begleitet die drei Söhne von Boris Green bei den Nachforschungen über das Leben ihres Vaters. Der war nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Bruder von Belarus nach Australien ausgewandert. Beide arbeiteten in normalen Berufen und hatten ihre Familien. Sie entdeckten, dass viele Kriegsverbrecher unbehelligt in Australien lebten und arbeiteten. Die australische Regierung tat nichts dagegen, da sie mit deren Erfahrungen Hilfe beim Kampf gegen den Kommunismus haben wollten. Waren der Vater und sein Bruder Rächer, die viele Nazis umbrachten, im Stil von ihren Partisanenaktionen im Krieg? Sie engagieren einen Privatdetektiv, der immer mehr herausfindet. Erhellend und spannend.
Abgerundet wurde das Programm durch mehrere Nebensektionen. In Kino Fermished stach vor allem die kanadische Doku 999: The Forgotten Girls von Heather Dune Macadam heraus. Sie zeigt die Geschichte der ersten deportierten Jüdinnen nach Auschwitz. Es waren 999 Mädchen aus der Slowakei. Viel zu oft wird das Leiden der Mädchen zu wenig beachtet. Und genau das tut nun die Regisseurin mit einer guten Mischung aus Interviews von ehemaligen Opfern, Spielszenen, Fotos, Zeichnungen und Archivaufnahmen. Stark.
In der Sonderreihe Der Angst Begegnen – Filmische Reflektionen von Terror, Trauma und Widerständigkeit liefen vor allem Filme zum Thema, die bereits im Kino waren. Filme wie Maixabel, Frieden, Liebe und Death Metal oder Utoya July 22 beleuchteten verschiedene Terrorakte. Neu war hier Supernova – The Music Festival Massacre von Mala Reinhardt. Der Film zeigt die Terrorangriffe der Hamas auf das Festival am 7.10. Viele Zeugen und Betroffene kommen zu Wort, der Film lebt aber vor allem von den diversen Handyaufnahmen der Fliehenden. Der Film zeigt die Bilder zu den Nachrichten.
In der Retrospektive Antizionismus und Antisemitismus im Sozialismus und danach zeigte viele „alte“Filme zum Thema wie Die Kommissarin von Aleksandr Askoldov, Goya von Konrad Wolf oder Ida von Pawel Pawlikowski.
Zusätzlich gab es Filme zur Ausstellung Sex.Jüdische Positionen im Jüdischen Museum, Podiumsdiskussionen und Kurzfilmprogramme.
Harald Ringel
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