Locarno 2025 – Semaine de la critique: Grünes Licht (Green Light) von Pavel Cuzuioc – Sich dem Tod stellen
Es mag eine Überraschung für viele sein, dass ein medizinisch assistierter Suizid in Deutschland legal ist. Sowohl die Möglichkeit, sich das eigene Leben zu nehmen, sowie dabei Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen, ist seit dem Jahr 2000 hier ausdrücklich legitim. Der deutsche Neuropsychiater Dr. Johann Spittler ist ein frei praktizierender Vertreter dieses Rechts. Der in der Sektion „Semaine de la Critique“ des Locarno Film Festivals gezeigte Dokumentarfilm Grünes Licht des moldauisch-österreichisch-rumänischen Regisseurs Pavel Cuzuioc begleitet den Hilfespendenden auf seinen Wegen zu sehr unterschiedlichen Hilfesuchenden. Seine Aufgabe ist, Gutachten zu erstellen, um den Leidenden die nötigen Mittel für ihren Todeswunsch zur Verfügung stellen zu können und in den letzten Phasen gegenwärtig zu sein, oder in anderen Fällen, unter Anwendung einer den Wunsch bestätigenden Videoaufzeichnung während der letzten Minuten das mortale Mittel selbst zu applizieren.
© Pavel Cuzuioc
Ein Neuropsychiater kämpft für das lebenswerte Leben im juristischen Dschungel
Man folgt Dr. Spittler in langen und intensiven Dialogen. Er fragt langsam und laut artikulierend, auch mitschreibend, sowohl nach den Gründen für den Todeswunsch als auch nach allen aktuellen Lebensumständen sowie den vergangenen Lebensphasen. Doch ist er sich des eigentlichen Paradoxes wohl bewusst: Kein Aussenstehender kann den wirklichen Schmerzempfindungsgrad, besonders psychischen Leidens, erfassen, lediglich sich ihm annähern durch die Evozierung eigenen Erfahrungen. Leidensdruck scheint das ausschlaggebende Argument zu sein, um eine Sterbensassistenz in Anspruch zu nehmen. Und gerade hier tut sich der juristische Abgrund auf.
Die Rechtslage ist weitaus komplizierter als es das Legitimationsgesetz vermuten lässt. Der Gutachter muss prüfen, ob die Willensbildung nicht mangelhaft ist. Hier fehlt es an eindeutigen Kriterien. Im Übrigen sind sowohl der Begriff Willensbildung wie Willenskraft philosophisch unhaltbar. Jederzeit wird der Wille durch Affekte, die auf Geist und Körper einströmen, determiniert. Bereits Spinoza wusste um die Absurdität des Konzeptes eines souveränen, autonomen Subjektes. Juristisch aber werden Willensautonomie und Freiverantwortlichkeit weiterhin unterstellt und apostrophiert. Ebenso sind Parameter wie „Einsichts- und Urteilsfähigkeit“ zu abstrakt, um Lebenssituationen wirklich definieren zu können. Die Möglichkeit einer Hilfe zum Suizid akkumuliert in dem Paradox, dass die Willensentscheidung frei von Einschränkungen oder mentalen Mängeln getroffen werden muss, wenn faktisch gerade Schmerzen und Einschränkungen aller Art den Willen jederzeit beeinflussen, dass gerade diese Schmerzen und Einschränkungen der Grund des Todeswunsches sind. „Innere Festigkeit“, auch ein hier gern gebrauchter unsinniger Term, könnte man vielleicht einem Patienten zusprechen, wie er auch im Film erscheint (!), der kurz vor dem Todesakt noch Kreuzworträtsel löst. Doch hier mangelt es scheinbar wieder an Leidensdruck. Daher liesse sich paradoxal auch hier ein Argument für die Assistenzverweigerung konstruieren.
Johann Spittler verbringt Stunden mit den Hilfesuchenden und möglichst auch mit ihrer nahen Umgebung, um zu prüfen, ob sie ihre als mangelhaft erfahrene Existenz noch aushalten können oder ob er den weiteren progressiven Verlauf einer Demenz als unzureichenden Todeswunschgrund ablehnen muss. Nicht selten verkehrt sich die Befragung der Hilfesuchenden zu einem wirklichen Dialog. Einer unter ihnen fragt, warum er sich diesen Job gewählt hat, mit gequälten Menschen seine Zeit zu verbringen und sie auch noch „auszufragen“. Er trifft hier einen wunden Punkt, denn in der Tat leidet der Gutachter mit, seine Empathie ist einerseits notwendig für seine Hilfe, kann sich für ihn selbst aber in zermürbende Lebensphasen transformieren, ein Mitleiden, dass er vor seiner Frau nicht verbirgt. Einmal direkt von einer Patientin befragt zu ihrem möglichen Tod gibt er zu: „Es würde mir sehr wehtun, sie begleiten zu müssen“.
Denn Johann Spittler kämpft für das Leben, stets bemüht, nicht schnellen und abrupten Aktionen und Impulsen zu folgen. Und in der Tat ist nur ein dauerhaft und wiederholt geäusserter Todeswunsch ein hinreichender Grund für eine Assistenz. Er ist überzeugt, dass niemand ohne ernsten Grund auf Lebenszeit verzichtet.
Ist der erste Teil von Grünes Licht ganz den Dialogen mit den Hilfesuchenden gewidmet, wendet sich der zweite auch der Privatperson des Gutachters zu. Wir sehen ihn auf Spaziergängen mit seinem immer präsenten, gutmütigen Hund, in Gesprächen mit seiner Frau und in seinen Konfrontationen mit juristischen Angriffen. Seine Entscheidungen kosten ihm, wie auch seinen Kollegen*innen, die unter gleichen Umständen arbeiten, oftmals hohe Summen an Geld und Zeit. Schliesslich verliert er temporär sogar seine Arbeitserlaubnis. Seine Kraft schöpft Johann Spittler nicht zuletzt aus seiner Vergangenheit, vor allem durch die Erinnerung an seine Mutter, eine Frau geprägt von grosser Stabilität und Gelassenheit. Aufarbeiten – Abspalten – Vergeben, ist das Modell, welches Dr. Spindler seinen Hilfesuchenden zu vermitteln versucht. Sowie auch, noch einen Neuanfang zu sehen, wo und wie immer es auch möglich ist.
Sein Alltag ist ebenso geprägt von Polizeibegutachtungen, die länderspezifisch nötig sind, erst durch die Streifen-, dann durch die Kriminalpolizei, bis zur Verordnung von Autopsien. Dagegen schätzt Johann Spittler die ersten Gespräche, zu denen sich im Alltag wenig Gelegenheit bietet, vor allem, wenn er auch nur den Hoffnungsschimmer einer psychischen Entlastung wahrnimmt oder dazu beitragen kann. Dankbarkeit für eine Begleitung erfährt er nahezu überall, eine innige Umarmung demonstriert dies im Film. Zuweilen kommt sogar eine Art Fröhlichkeit auf, wenn die Hilfesuchenden das Ende ihres Leidens absehen können. Grünes Licht, im Sinne eines Zuspruches für einen Todeswunsch, spricht Johann Spittler nie aus. Suizid bleibt für ihn „ein schrecklicher Weg“. Und dies kommuniziert er auch. Nicht nur in solchen Momenten bleibt er ein Dialogpartner und kein Gutachter.
Der Dokumentarfilm Pavel Cuzuiocs endet im Abspann mit einer schockierenden Nachricht. Obwohl Dr Spittler 700 Personen nach Freiverantwortlichkeit untersucht und einen Teil zum Suizid begleitet, sowie 34 wissenschaftliche Arbeiten über ethische und medizinrechtliche Aspekte veröffentlicht hat, wird er zu drei Jahren Haft wegen „indirekten Totschlages“ verurteilt. Sein Appell wird abgelehnt. Für Dr. Spittler war es unerträglich, Menschen mit psychischen Störungen nicht helfen zu können, selbst nicht nach Wartezeitauflagen und erfolgter therapeutischer Betreuung. Für die juristisch ungeregelte (ungleiche) Behandlung zahlt er nun, als einzeln Praktizierender, seinen Preis.
Von Pavel Cuzuioc; Österreich, Rumänien; 2025; 101 Minuten.
Dieter Wieczorek, Locarno
© j:mag Tous droits réservés