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Watch Docs Festival: Leichenberge als Fake News – die Grenzen des Dokumentierens

Wir sollten von Anfang an nicht vergessen, dass wir in 20 Days in Mariupol Bilder sehen, die unter Lebensgefahr entstanden sind. Nach ersten russischen Kriegsdrohungen verliessen alle internationalen Filmteams die Hafenstadt, bis auf ein kleines Team, dem wir diesen Film verdanken.

20 Days in Mariupol von Mstyslav Chezrnov
© AP Photo/Mstyslav Chernov

Wir wissen, was wir zu erwarten haben und die Frage nach der politischen und kulturellen Funktion des Aufzeichnens des reinen Horrors wird zu stellen sein. Denn was hier geschah, ist durchaus mit den Aktivitäten der israelischen Armee im aktuellen Gaza vergleichbar. Was ideologisch gern auseinandergehalten wird, ist faktisch die gleiche Wirklichkeit: die Tötung von Tausenden zivilen Opfer durch eine militärische Aktion.

Technisch gibt keine andere Wahl für das Filmteam, Mstyslav Chezrnov und Evgeniy Maloletka, als schnell bewegte Handkameras und oftmals Naheinstellungen, teilweise selbst während Fluchtlaufbewegungen realisiert. Die Aufzeichnungen beginnen am ersten Kriegstag, dem 24 Februar 2022. Wasser- und Stromversorgung sowie Internetverbindungen brechen in den folgenden Tagen fast völlig zusammen. Daher hat das Team Schwierigkeiten, seine Aufnahmen an die internationalen Pressestellen zu senden.

Der Zuschauer, die Zuschauerin wird mit Bildern von Amputationen ohne schmerzlindernde Mittel konfrontiert, mit sterbenden Babys auf Operationstischen, mit Opfern, die Gliedmassen verloren haben und Krankenhauskorridore voller Menschen, die vergeblich auf eine Behandlung warten. Die Armee der russischen Föderation schreckt nicht zurück, Krankenhäuser, selbst eine Entbindungsanstalt in Schutt und Asche zu legen.

In dem in Sundance prämierten und nun im Warschaus WATCH DOCS Human Rights Film Festival gezeigten Werk wird nichts beschönigt. Mstyslav Chezrnov und sein Kollege Evgeniy Maloletka zeigen ebenso die Akte von Plünderungen unter den plötzlich Verarmten. Ein Mediziner bringt es auf den Punkt: den Krieg ist wie ein Röntgengengerät, er zeigt die Wirklichkeit des Inneren – gute Menschen werden noch besser, schlechte noch schlechter.

Wenn ein Generator irgendwo noch Strom erzeugt werden Dutzende von Handys geladen, um sie lediglich als Taschenlampen nutzen zu können, da die Web-Kommunikation abgebrochen ist. Daraus resultiert eine völlige Desorientierung. Rücksprachen mit Verwandten ausserhalb der Stadt sind nicht mehr möglich. Keine Nachricht über die Vorgänge im übrigen Land dringen mehr durch. Die Konfusion kann so weit gehen, dass die Opfer nicht einmal wissen, von welcher Armee sie beschossen werden.

Mit erstaunlich ruhiger und konzentrierter Stimme kommentiert Chezrnov aus dem im Off das Geschehen, ohne seine eigenen Gefühle zu verleugnen: „Mein Gehirn versucht dies zu vergessen, aber die Kamera erlaubt dies nicht“.

Der Filmer, der Photograph Maloletka und der ukrainische Helfer Vladimir wollen sie die Welt über den Horror informieren, in der Hoffnung, dass diese direkte Konfrontation mit ihrer Wirklichkeit die internationale Gemeinschaft entscheidend beeinflussen und Gegenkräfte mobilisieren kann. Sie alle riskieren ihr Leben, falls sie mit ihren Kameras und gespeicherten Material aufgegriffen würden.

20 Days in Mariupol von Mstyslav Chezrnov
© AP Photo/Evgeniy Maloletka

Zerstöre Feuerwehrzentren, verschüttete Menschen, die vor der Kamera ihr Leben aushauchen, herumstreuenden Kinder ohne Eltern, eine zerstörte Universität, eine Frau, die über verstorbene Kinder in einem verschütteten Keller berichtet, weinende Krankenschwestern, die das Leben von Kindern auf der Intensivstation nicht retten konnten, das Auffüllen von Massengräbern mit Leichen, ein Sniper, die eine Krankenschwester vor dem Krankenhaus erschiesst… wir brauchen hier keine weiteren Details hinzufügen, die von einem bedrohlichen Dämmersound Jordan Dykstras begleitet werden.

Durch einen letzten noch intakten Hotspot kann Chezrnov in 10 Sekunden Splits mit 3 Handys erste Aufnahmen senden. Nach zwanzig Tagen verlässt das kleine Team mit dem letzten Konvoi des Roten Kreuzes die Stadt, nicht ohne Bedauern, die hilflosen Opfer zurückzulassen. Um zu dem bereits gestarteten Konvoi zu gelangen riskiert Vladimir mit seiner Familie eine 100 km Wagenfahrt durch okkupiertes Territorium, fünfzehn russische Kontrollen passierend, die Kameras und Filmkassetten unter den Sitzen versteckt.

Mariupol fiel nach 86 Tagen. Mindestens 25 000 Tote wurden bis dahin offiziell bekannt gegeben.

Die Reaktion: Chernov wird im Westen mit dem „2023 Pulitzer Prize for Public Service“ geehrt. Russischen Medien kommentieren seine Materialien als Fake News. Der russische Botschafter der UN bezeichnet die Aufnahmen als Teil eines Informationskrieges, der zu gewinnen sei. Die Kommentare gehen so weit, die Szenen um das zerstörte Geburtsklinik und die herum irrenden Opfern als gestellte Filmszenen bezeichnet werden. Die Klinik – so lässt sich der russische Aussenminister Lavrov verlauten, seien von Terroristen besetzte gewesen und die Schwangeren, Krankenschwestern und Krankenhauspersonal bereits vorzeitig evakuiert worden.

Hinter diesen kruden Leugnungen können wir ein wirklich kulturentscheidendes Phänomen nicht übersehen. Die Perfektion der Erstellung audiovisuellen Materialien nach Wunsch nimmt rasch zu. Die Ethik und Bedeutung des „dokumentarischen Bildes“ nimmt entsprechend ab. Jean Baudrillards provokante Bemerkung „Der Golfkrieg hat nicht stattgefunden“, findet technologisch eine unheimliche Bestätigung, das in seiner Konsequenz das zivilisatorisch entscheidende Konzept der Wahrheit bedroht. Potenziell können wir alle zu Opfern der Medien werden und damit zu Bewohnern in Platons Höhle, die Schattenwesen für die Wirklichkeiten halten. Informationsvergleich und analytisches Wissen mögen hier noch gegensteuern können. Allerdings spricht es nicht für die westlichen Medien, Presse- und Gedankenfreiheit, wenn die Medien der anderen Seite einfach abgeschaltet werden, wie es zumindest im TV-Bereich geschah. Dies nämlich ist die Praxis von diktatorischen Systemen.

Mariupol fiel nach 86 Tagen. Mindestens 25 000 Tote wurden bis dahin deklariert. Zurück bleiben Halden mit Kreuzen, die nur eine Nummer tragen.

Von Mstyslav Chezrnov; Ukraine; 2023; 94 min.

Dieter Wieczorek

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Dieter Wieczorek

Journaliste/Journalist (basé/based Paris-Berlin)

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