Berlinale 2024 – Forum: The Human Hibernation, Ein Werk des poetisch labyrinthischen Abgleitens
Hibernation ist die Kunst, die Bewegungen einzustellen, das Konsumieren zu beenden und die Atemfrequenz zurückzufahren. Dies ist ein gelungener Titel für einen Film zwischen allen Linien, vorwiegend situiert, der keine erwähnenswerte Aktion aufweist und nur durch enigmatische Sprachsequenzen spröde Interpretationszugänge eröffnet.
Wir betreten ein Limbo, das apathisch, suggestiv, labyrinthisch Deutungsversuche nicht zum Abschluss kommen lässt. Die ersten Bildsequenzen bieten ein nächtliches Szenarium, den Laut eines bedrohlich klingenden Tieres, röhrende Hirsche und ein rätselhaftes Rotlicht in der Ferne.
Es vergeht einige Zeit, bevor man von einer Minimalaktion sprechen kann. Ein Kind schlüpft aus einer Bodenmulde auf eine schneeüberdeckte Oberfläche, beginnt seine Erkundung und ruft zunehmend beunruhigt nach einer Person. Sein Schrei lässt die Tiere in der Nähe aufhorchen. Unvermittelt sieht man ein leerstehendes Landhaus, indem sich Haustiere eingenistet haben. Schliesslich kriechen immer mehr Menschen aus einem Erdrohr, beriechen und ertasten sich, als ob jeder Kontakt zwischen ihnen weit zurückliegen würde. Kurz darauf: eine junge Frau steht mit einem Huhn in Kommunikation, noch bevor es ausgeschlüpft ist.
Gewiss bewegen wir uns hier in einem nicht-mehr-anthropologischen Raum, der mit Signalen angereichert ist, die eine transzendente, mächtigere Wirklichkeit suggerieren.
Die Spanierin Anna Cornudella Castro versucht in ihrem ersten Langfilm, prämiert in der Forum-Sektion der Berlinale 2024, erst gar nicht, Deutungsschlüssigkeiten anzubieten. Die nur zwei enigmatischen Sprachsequenzen führen in andere Richtungen. Eine ältere Frau expliziert den unaufhaltsamen Übergang von festen Formen zu flüssigen. Nur in stehenden Gewässern können man – ihr nach – zu anderer Bewusstseinsformen vordringen, und nur im Auge einer Kuh können man eine Weitsicht wie nirgendwo anders gewinnen.
Gewiss ist die Beziehung zu Tieren ein Leitmotiv in Castros in Zusammenarbeit mit dem Drehbuchkoautor Lluís Sellarès erschaffenen Kosmos. Die Kameraführung von Arthur Pol Camprubís und die Editionsarbeit Marc Roca Vives’ verdichten die Szenarien zu einer zwischen Traum und Vision pendelnden mentalen Landschaft.
Wie ein abgeschiedener Philosoph sitzt ein Mann, umgeben von Nutztieren auf einem alten Sessel in einem Landhaus und resümiert seine Lebensweisheit: Wir müssen lernen, mehr wie Tiere zu kommunizieren, ohne Laute, aber durch Gesten und eine direkte Erfassung der Gedanken des anderen. Dann formuliert er die einzige Passage, die zumindest ansatzweise „Human Hibernation“ eine interpretative Kontur gibt, die er an die junge Frau adressiert: Wenn du eine höhere Macht spüren oder ihre Existenz erfassen willst, musst du nachts hinausgehen in die Felder, innehalten, aufschauen zu Mond und Sternen und abwarten, bis etwas durch dich zu strömen beginnt. Dies gibt dir die Möglichkeit mit denen zu sprechen, die zuvor dahin gegangen sind und zu denen, die du verloren hast, hier kannst du und die Dinge, für die es bisher keine Gelegenheit gab, aussprechen und die bisher verschwiegenen Fragen stellen, um hoffentlich Antworten zu erhalten, die dich in einem besseren Geisteszustand davon gehen lassen werden, mit ein wenig mehr Frieden in deiner Seele.
Eine stillstehende Kuhherde auf einem nächtlichen Hügel, die gleich darauf kontrapunktiert wird mit einem Gitarristen, der ein schnulziges Lied erklingen lässt, eine Szene, die David Lynchs Mulholland Drive entsprungen sein könnte, die junge Frau liegt im Farn und verschlingt Blüten, Männer berichten von ihrem reinigendem Lecken von Kinderaugen, um sie für die nächste Saison vorzubereiten, es folgt ein frenetisches Essgelage, die einen Tisch voller Reste zurücklässt, die wiederkehrende junge Frau taucht in einen Nachtsee ein, der Gitarrist spielt erneut vor einer Herde Kühe des Nachts, eine warnende Sirene ertönt in der Ferne, ein rätselhafter Korb gleitet in eine Wassermulde … wenige Werke in diesen Tagen werfen mehr poetisches Deutungspotenzial auf als The Human Hibernation. Den Überblick zu verlieren muss keine negative Erfahrung sein.
Von Anna Cornudella Castro; Spanien; 2024; 90 Minuten.
Dieter Wieczorek, Berlin
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