Berlinale 2024 – Panorama : Ein Land zwischen Sektierertum und Korruption: der Libanon
Myriam El Hajj Dokumentarfilm über den Stand der Dinge im Libanon beginnt mit einer Performance junger Aktivisten, die Rede- und Denkfreiheit fordern, ein Leben ohne dauerhafte Beobachtung und Befragung, ein Land ohne eine korrupte Familienmafiapolitik und ohne Fanatiker. Einer der Aktivisten ist Joumana Haddad, eine Kandidatin für das Regierungsparlament. In wenigen Tagen werden die ersten Wahlen nach 9 Jahren stattfinden.
Als Off Voice gibt Myriam El Hajj ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse preis, auf dem Hintergrund der historischen Umbrüche ihres Landes, gekennzeichnet und zersplittert durch eine Vielzahl von ethnischen, ideologischen und religiösen Lagern, die sich nicht einmal auf ein einheitliches Wahlrecht einigen konnten. Die beiden für den Bürgerkrieg (1975–1990) verantwortlichen Warlords verschwanden von der politischen Bühne, um 15 Jahre später an der Seite befreundeten lokalen Machthabern sich wieder zu etablierten und die Vergangenheit zum Tabu werden liessen.
Joumana Haddad ist optimistisch und kann es sein, angesichts von Hunderttausenden Demonstranten auf der Strasse, die den Sturz der gesamten Regierung fordern, eine Revolution, die vorwiegend auf friedliche Strategien setzt. In der Tat wird Haddad nach der Auszählung in Beiruts 1. Distrikt als neu Gewählte durch öffentliche Medien bestätigt, doch über Nacht verschwindet ihr Name wider von der Kandidatenliste. Erneute Strassenproteste verändern daran nichts. Über die folgenden Monate begleitet El Hajj sie auf ihren Wegen, die zunehmend von Problemen des reinen Überlebens überschattet werden, in einem Land, in dem die Preise selbst im Supermarkt stündlich steigen. Als selbst die Explosion am 4. August 2020 im Hafen Beiruts die verantwortliche Regierung zu keinem Umlenken veranlasst, gibt sie ihre politische Karriere auf.
Ihre Forderungen waren einfach: ein Wahlrecht, das nicht an Religionen geknüpft ist, keine Quotenregelung und kein politisches Erbrecht. Weiterhin forderte sie mehr selbstbestimmte sexuelle Freiheit und bekannte sich zum Atheismus. Sie erntete Mord-, Folter- und Vergewaltigungsdrohungen, die sie für sich noch in Kauf nahm, aber als auch ihre Familie, besonders ihre Kinder, in diesen Sog gerieten, wollte sie diese Verantwortung nicht mehr tragen.
In Diaries from Lebanon folgt El Hajj zwei weiteren zentralen Figuren. Perla Joe Maalouli ist eine unermüdliche Aktivistin. Ihr künstlerisches Multitalent stellt sie zurück, um auf den Strassen zur Symbolfigur des Rufes nach einer Revolution zu werden. Aber auch sie muss einsehen, das blosse Strassenproteste, auch wenn die von Hunderttausenden getragen werden, kein politisches System stürzen werden.
Das dritte Porträt widmet sich dem bereits im Bürgerkrieg aktiven Veteran Georges Moufarei. Er behauptet, brisante Hintergrundinformationen der damals Verantwortlichen zu haben, die weit über die Landesgrenzen hinaus gehen. Er will solange schweigen, bis der richtige Zeitpunkt gekommen sei. Die Revolte der Strasse ist seiner Meinung nach zum Scheitern verurteilt. Die Verantwortlichen der Staatsmacht müssten seiner Ansicht nach direkter angegriffen werden, zugleich müssten die Rebellierenden klare Repräsentanten hervorbringen, um einen Dialog zu ermöglichen. Er selbst habe bereits 35 Jahre auf eine Revolution gewartet, aber diese sei zum Scheitern verurteilt.
El Haji gleitet zwischen diesen drei unterschiedlichen Sichtweisen der unmittelbar Betroffenen geschickt hin und her. Derartig vermag sie diverse Wirklichkeitsprotokolle zu erstellen, die der komplexen und kontroversen Realitätwahrnehmung gerecht werden. Auch in ihrem zweiten Dokumentarfilm bleibt El Hajj der Rekonstruktion der lokalen Geschichte treu, verbindet diese jedoch nun auch überzeugend und berührend mit der Einflechtung intimer Erlebnisse.
In einem Land voller Bedrohungen, permanenter Angst und Zensur, wo selbst Wähler mit dem Entzug ihres Gesundheitsschutzes bedroht werden, wählten sie einen unabhängigen Kandidaten, ein Land, wo viele durch den Verlust aller Werte und Mittel in den Selbstmord getrieben wurden, scheint eine Hoffnung auf Veränderung zumindest in absehbarer Zeit in weite Ferne gerückt.
Hat sich die Korruption erst einmal überall eingelagert ist ein Umbruch kaum mehr vorstellbar.
Von Myriam El Hajj; Lebanon, France, Qatar, Saudi Arabia; 2024; 110 Minuten.
Dieter Wieczorek, Berlin
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