Das Tampere Film Festival 2025 – Der verletzbare Einzelne in destruktiven Umwelten
Es gibt zwei Argumente, die besondere Bedeutung des Tampere Film Festival gegenüber den beiden anderen internationalen Kurzfilmfestival in Oberhausen und Clermont-Ferrand hervorzuheben. Zunächst einmal der Verzicht auf eine Premiereanforderung. Dieser destruktive Mechanismus, der im kommerziellen Eingang zwischen (immer mehr) Filmfestival und Distributoren betrieben wird, führt zur zeitlichen Blockierung der möglichen Präsentation relevanter Filme an Hunderten von Festivalorten. In Tampere (Finnland) aber kann sich das Publikum auf eine wirkliche „Best-of-the-Year“ Auswahl freuen. Filme kommen von unterschiedlichen Festivals, einschliesslich Cannes, nach Tampere. Natürlich gibt es auch viele Premieren zu sehen. Die Dinge schliessen sich nicht aus.
Foto mit freundlicher Genehmigung The Party Film Sales
Das zweite starke Argument für Tampere ist, dass man hier den Eindruck einer wirklich essenziellen, auf soziale, politische, psychologische, technologische und existenzielle, kurz auf kulturell signifikante Aspekte ausgerichtete Filmselektion gewinnen kann, was in dieser Masse weder für Clermont-Ferrand gilt, wo man eher eine „Everything-Goes“ Erfahrung machen kann, noch Oberhausen, wo im internationalen Wettbewerb ästhetisch Provokanz dominiert, als eine Art Zulieferungsleistung für den sich signifikanter Referenzen entledigt habenden Kunst-Galeriebetrieb.
Hier nur eine Auswahl wirklich überzeugender Filme, die komplexe Problematiken in die kurze Filmform kondensieren
Rúnar Rúnarsson schafft in seinem Porträt O das Porträt eines schweren Alkoholikers, der alles verloren hat, selbst seine Tochter. In einer Entziehungsanstalt sein tristes Dasein fristend, nimmt er anlässlich der Hochzeit seiner Tochter noch einmal alle Kräfte zusammen, um dort nüchtern zu erscheinen. Doch nach einer kurzen schwerfälligen Rede, in der seine Liebe zu ihr zweifellos spürbar wird, bricht sein Auftritt schmerzlich ab. Der isländische Regisseur und Drehbuchautor schafft hier ein Tableau, das es erlaubt, zu einem an den Rand der Gesellschaft Katapultierten eine emotionale und emphatische Beziehung zu schaffen, die seine Verluste, seine Hilflosigkeit und seinen Schmerz nachvollziehbar machen.
Der Einzelne im Konflikt mit einem menschenverachtenden Umfeld ist Thema auch in The Man Who Could Not Remain Silent (Ek koji nije mogao šutjeti) des kroatischen Filmemachers Nebojša Slijepčević. Er positioniert sein Werk ins Kriegsjahr 1993 in Bosnien Herzegowina. Paramilitärs durchsuchen einen Zug, getrieben von rassistisch ethnischen Motiven, mit dem Ziel der Exterminierung der Geahndeten unter den Reisenden. Die nicht Betroffenen bleiben überwiegend apathisch, passiv. Eine junge Frau setzt sich ihre Kopfhörer auf, um das Ereignis zu ignorieren. Ein Mann leistet zunächst Widerstand, lässt sich jedoch schliesslich einschüchtern. Dagegen widersetzt sich energisch ein hoher Offizier des nationalen Militärs. Sich für einen Mitreisenden einsetzend, festhaltend an einer militärischen Ethik, wird er selbst zum Opfer, rettet jedoch das Leben seines Mitreisenden. Der Mangel an Zivilcourage, die gemeinhin zu beobachtende Aktionsvermeidung angesichts unerträglichen Angriffen auf Mitmenschen ist hier das eigentliche, schmerzhafte Thema. Doch wer riskiert schon sein Leben für Andere, besonders gegenüber einer bestialischen, dominanten Macht?
Die Masse und der Einzelne, eine Problematik diesmal angesiedelt in einer ägyptischen Hausgemeinschaft, geprägt durch eine zutiefst konservative Moral. Ahmed ElZogbhy Werk Blackout (Qafla) zeigt drei Generationen einer Familie wohnhaft im gleichen Haus, in dem auch eine junge Frau lebt, die wegen ihrer zu freien Moral unter Verdacht und Beobachtung steht. Als der Grossvater der Familie schwer erkrankt, wird sie als Verschulderin geoutet. Heimkehrend mit einem Mann entladen sich die angestaute Aggressionen auf die Unverheiratete in körperliche Gewalt mit fatalen Folgen für die Aggressoren. Zu spät erkennen die lustvoll Angreifenden, dass diese Frau Ärztin ist und dem Erkrankten hätte helfen können.
In Indien versucht eine Frau, die Umweltzerstörung, die ihre Lebensgrundlage, einen See und sein Fischbestand gefährdet, aufzuhalten, indem sie ein prächtiges Fischmal für einen hochgradig Verantwortlichen der Destruktion vorbereitet, durch das sie hofft, ihn an den Reichtum und Wert der Fischkultur zu erinnern. Rishi Chandna lässt jedoch in The Feast (Virundhu) leinen Zweifel daran, dass der Geladene wohl die Kost zu würdigen weis, aber ihre Gebete und Wünsche an sich abprallen lässt. Chandna schafft ein realistisches Werk, eine Machtelite zeigend, die selbst den unmittelbaren Opfern wenig Aufmerksamkeit schenkt, selbst wenn sie noch einmal kosten und sich an das erinnern kann, was sie zerstört.
Der Einzelne auf verlorener Position, diesmal gegenüber einer zynischen bürokratischen Gewalt, thematisiert Samir Karahoda in On the Way (Rrugës). Mit wenig Mittels gedreht wird im Dialog zwischen Vater und Sohn eine Gesellschaft, in diesem Fall Kosovo, skizziert, die ihre Talente verliert, die allesamt ins Ausland auswandern. Ihre Autofahrt führt sie zu einem Postbüro, wo ein Geschenk auf sie wartet, vom Grossvater des Sohnes aus dem Ausland geschickt. Doch selbst dieser einzige, positive Aspekt im alltäglichen Leben wird ad absurdum geführt, dass das Amt hohe Transportgebühren verlangt. Eine Gesellschaft in Stagnation ohne wirkliche Zukunft wird hier in 15 Minuten auf den Punkt gebracht. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, auch hier.
In kristalliner Schärfe werden kolonialistische Patterns in „entwickelten“ Gesellschaften auf den zynischen Punkt gebracht in Martín Seegers The Canon (El canon). Er zeigt einen Emigranten aus Haiti, dessen schwarzer wohlgeformter Körper überall mit grossem Interesse genutzt wird, unter anderem als Modell in Kunstschulen und Privatateliers, bis hin zu seiner totalen Erschöpfung. Im Krankenhaus dient er zu Schulungszwecken und schliesslich dient sein Körper zu einer medizinischen Sezession. Selbst sein gut immer noch gestaltetes Skelett wird genutzt und ausgestellt zur medizinischen Schulung. Der Mann selbst spricht nie ein Wort. Er existiert nur als nutzbare Materie. Seegers schafft ein Meisterwerk der szenischen Verdichtung und Reduktion, die an Robert Bresson erinnert.
Foto mit freundlicher Genehmigung Premium Films
Die Marginalen unserer Gesellschaft, die Unsichtbaren, die im Verborgenen schwer Arbeitenden sind Thema in Kate McMullen Rhubarb Rhubarb. Die grossbritische Regisseurin folgt einem gealterten Paar in ihre agrarische Werkstätte zu ihrer ununterbrochenen Tag- und Nachtarbeit. Materiell ständig an der Überlebensgrenze schleppen sich die Körper, besonders der schmerzbeladenen Körpers des Mannes, von Arbeitspflicht zu Arbeitspflicht. Touristen machen Fotos von der eigenständigen Produktion des Kleinbetriebes. Kate McMullen bringt ein entbehrungsreiches, freudloses und aussichtsloses Leben auf den Punkt. Die Selbstmordraten unter den Agrarbetreibern sind bekannt. Hier werden die Gründe nachvollziehbar gemacht.
Wie immer mit schelmischem Humor veranschaulicht John Smith seine Geschichte des Konfliktes zwischen Individuums und Gesellschaft. Er schildert mit viel Humor und Selbstironie die Höhen und Tiefen seines Lebens, das besonders markiert wurde durch seinen nur allzu häufigen Namen. Being John Smith, sein wohl persönlichstes Werk, bereichert mit viel Archivmaterial, ist ein nachdenklich stimmendes Werk eines Mannes, der stets bescheiden, nicht viel von sich sprach und spricht, doch trotz seines kompromisslos reduktiven, individuellen Stils zu Weltruf gekommen ist. Er rekonstruiert seine Karriere als Künstler und Filmschaffender, behaftet und limitiert durch seinen auch nur aus Zufallsgründen applizierten Allerweltsnamen. Feiern kann er ihn nur einmal, eingeladen zu einem Konzert seines Freundes und Schülers Jarvis Cocker, auf dem der Titelsong „Common People“ ertönt und enthusiastisch vom Publikum gefeiert wird.
Dieter Wieczorek
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