Eine poetische Rebellion in den Himmel geschrieben – Interview mit Sissel Morell Dargis, Regisseurin des Dokumentarfilmes Balomania, präsentiert in Nyon’s Visions du Réel Festival 2024
Balomania ist der Titel eines Dokumentarfilms über eine bis heute lebendige Tradition, riesige Ballons zu fabrizieren, um sie an verborgenen Orten zum Himmel gleiten zu lassen, ein Spektakel, das nur für wenige Minuten sichtbar ist. Diese sehr komplexe Praktik verbindet religiöse, soziale und politische Kontexte. Man kann sie u. a. als eine in den Himmel geschriebene Rebellion gegen die geltende Ordnung interpretieren.
Interview mit der Filmemacherin Sissel Morell Dargis über ihren in Nyons Vision du Réel im Programm Grand Angle präsentiertes Werk.
Sie stammen aus Dänemark. Was brachte sie nach Brasilien?
Als ich 18 Jahre wurde mein Wunsch, aus dieser Umgebung auszubrechen, sehr stark. Zunächst reichte ich nach Patagonien, wo ich als Hilfskraft bei einem Stamm unterkam. Ich suchte immer nach lebbaren Utopien, aber als junge Frau fand ich zur Wasch- und Küchenkraft degradiert hier keine Lösung. Bald darauf nahm ich spontan einen Bus und machte mich in einer 33-Stunden-Fahrt nach Brasilien auf. Dort suchte ich nach Arbeit, vor allem aber nach Integration. Ich fand sie zunächst als Graffiti-Zeichnerin, eine Praxis, die mir bereits etwas bekannt war. Zum ersten Mal war ich eigenständig und fand Anerkennung. Dies war mein erster wirklicher Kontakt mit Kunst, und mit Menschen, die mir einen gewissen Schutz boten.
Trotzdem wurden sie kurzzeitig inhaftiert und fanden bald zu einer anderen Szene Zugang…
Ich kam bald mit Enthusiasten in Kontakt, die sich auf die Fabrikation von Ballons konzentrierten, um diese an geheimen Orten und erst im letzten Moment selektiv kommunizierten Zeitpunkt gegen Himmel fliegen zu lassen. Diese Praxis ist illegal und bringt doch Tausende Menschen zusammen.
Können Sie uns mehr zu den Hintergründen dieser Faszination sagen?
Wir wissen, dass die Fabrikation von Ballons eine tausende Jahre lange Tradition hat. Bereits bei den Mayas und Azteken finden sich Spuren, wie auch in Asien, vor allem in Indonesien, wo bereits mit Seidenpapier und Feuer gearbeitet wurde. Die Portugiesen brachen diese Praxis dann in Rahmen einer katholischen Tradition nach Brasilien. Immer stand hier der Wunsch im Hintergrund, mit dem Unbekannten, dem Himmel, Kontakt aufzunehmen.
Ab den 60ger Jahren wurden diese Ballons immer grösser. Aus Kleingruppen und Familien wurden ganze Kommunen, die diese Ballons gemeinsam bauten. Einmal in die Luft gesetzt dauert deren Leben oft nur wenige Minuten. Mich interessierte diese andere Art des Denkens und Fühlens, der Augenblicklichkeit. Mit diesen Flügen wurden Wünsche, Nachrichten oder auch Ehrungen freigesetzt. Auch als Nichtgläubiger fand ich hier eine Poesie in Physik transformiert, mit tieferen Bedeutungsschichten als im Graffiti, wo es noch um den eigenen Namen geht. Hier geht es um stets sich wandelnde Bedeutungen und vielschichtige Glaubensakte, um pure Kreationen, wie flüchtig auch immer. Diese Ballonkultur beinhaltet eine existenzielle Anerkennung der Fragilität des Lebens, der Sterblichkeit, und schafft zugleich ein kollektives Erleben und Zusammenstehen.
Die Fabrikation geschieht in einer meditativen Konzentration. Der kleinste Fehler kann den Ballon vorzeitig zerstören. Diese Kultur schafft Synesie und ist zugleich eine Art Gebet an das Unbekannte.
Diese Praktik ist in Brasilien illegal. Was ist der Grund?
Zunächst einmal kommt diese Kultur aus den Favelas und wird schon deshalb von den grossen Medien angegriffen und mit Bandenwesen in Verbindung gebracht. Auch kann es zu Unfällen kommen, die in den Vordergrund gerückt werden. Die einfachen und ärmeren Menschen, die an diese Kultur glauben, fühlen sich missverstanden und missachtet durch diese Kommentare. Richtig ist jedoch, dass auch Kriminelle diese Kultur bewundern und Mittel bereitstellen, sie zu ermöglichen.
Wie ist es angesichts einer immer perfekteren Überwachungstechnologie überhaupt möglich, diese Aktivitäten, besonders die Monate in Anspruch nehmende Produktion, geheim zu halten?
Dies ist eine delikate Frage, denn in der Tat partizipiert auch die Polizei an dieser Praxis, teilweise in Form von Bestechungsgeldforderungen, während der Produktion oder kurz vor der Freisetzung der Ballons, teilweise fördern Polizeibeamte diese Kultur unmittelbar und unterstützen sie mit eigenen Mitteln.
Zu erwähnen ist auch, dass als ich den Film drehte, Cell-Phone noch wenig in Gebrauch waren. Die nun allgegenwärtige Praxis des Videoaustausches erhöht die Risiken erheblich. Das Strafmass ist auf 5 Jahre erhöht worden. Opfer sind die wirklichen Ballonbauer, für die diese Kultur essenziell ist. Sie sind Erpressungen ausgesetzt und hilflos. An wen könnten sie sich wenden?
Könnte man ihren Film als eine Art Testament einer untergehenden Kultur deuten?
In der Tat haben viele Menschen mir bei meiner Arbeit geholfen, um eine Erinnerung an etwas wachzuhalten, was vielleicht sehr bald schon verloren gehen kann. Sie wollten ein Zeugnis aus neutraler Sicht, und nicht aus der Perspektive manipulierender Medien.
In ihrem Film ist immer wieder die Rede von der Erstellung eines 72 Meter grossen Riesenballons, das grosse Ereignis, auf das hin gearbeitet wird. Aber ist dieser Ballon dann im Film zu sehen?
Ja, aber nur ganz zu Anfang. Die Freisetzung geschah schliesslich so schnell und perfekt, dass der Ballon nach kürzester Zeit nur noch als kleiner Punkt zu sehen war. Ich selbst war nicht am Ort und die wenigen Telefon-Videoaufnahmen waren hier nicht wirklich dienlich.
Riskieren nicht all die Personen, die in Ihrem Film zu sehen sind, Gefängnisstrafen?
In der Tat zeigen sie ihr Gesicht und werden zu sichtbaren Figuren, juristisch jedoch ist der Film nicht applizierbar. Nur die direkte Erfassung beim Akt ist strafbar. Auch drehte ich den Film zwischen 2013 und 2014, sodass Evidenzen nun verjährt sind.
Was könnte ihr Film bewirken?
Ich hoffe, dass mein Film dazu beiträgt, einen anderen Blick auf diese internationale Kultur zu werfen, sodass unnötige Risiken und Freiheitsverluste in Zukunft vermieden werden können. In Mexiko gibt es bereits ein legales Ballonfestival. Dort ist diese Tradition, die bis auf die Azteken zurückgeht, seit Jahrhunderten in der einheimischen Bevölkerung verankert, wird als Teil des kulturellen Erbes angesehen und von der Regierung gefördert. In Kolumbien ist die Kultur illegal, aber auch dort gibt es ein legales Festival. Auch in Frankreich gibt es im Mai ein Ballonfest. Mein Wunsch wäre, je mehr Aufmerksamkeit sich auf diese Tradition richtet, umso besser werden die Chancen, sie fortleben zu lassen. Schon jetzt kommen Ballonbauer aus aller Welt, Indonesien eingeschlossen, auf den Festivals zusammen, um Erfahrungen auszutauschen, Bündnisse zu schliessen und gegenseitige Besuche zu vereinbaren. Wie sonst würden brasilianische Favelas-Bewohnern mit mexikanischen Ureinwohnern sich zusammen finden? Die Brasilianer nehmen in diesem bunten Feld wegen ihrer technischen Raffinessen einen Ehrenplatz ein und werden allseits geachtet. Und dies trotz allem Druck, der auf ihnen liegt.
Von Sissel Morell Dargis; Dänemark, Spanien; 2024; 93 Minuten.
Dieter Wieczorek
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