IFFR2024: Denken als Performance – In Rotterdam präsentieren Jenni und Lauri Luhta ein erstaunlich grenzüberschreitendes Filmwerk
Einer der wirklich aus dem Rahmen fallenden Werke in Rotterdams Film Festival 2024 betitelt sich schlicht Moses. Jenni und Lauri Jenni Luhta kreierten in Eigenregie ein ästhetische und inhaltlich hochkomplexes und provokantes Filmereignis, in dem sie zugleich die einzigen beiden Protagonisten Siegmund Freund (Jenni) und Moses (Lauri) selbst spielen.
Der durchgehende Monolog zitiert den komplexen Text Siegmund Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion, veröffentlicht am Ende seines Lebens. Freud wusste sehr wohl um die Brisanz dieses Textes und wollte sein Lebenswerk, seine Therapiemethode und seine Schülerschaft nicht frühzeitig unfruchtbarer und polemischer Kritik aussetzen: Sein Text beinhaltet alles, was es braucht, um die lebhaftesten Reaktionen zu provozieren.
Freund unternimmt nicht weniger als die gesamte kulturelle Geschichte ab der ägyptischen Pharaonen-Dynastie über Judentum und Christentum bis in die Gegenwart psychoanalytisch zu dekomponieren. Dieses unzweifelhafte Meisterwerk gedanklicher Freiheit reinterpretiert geschichtlichen Fakten durch die Applikation der zentralen Paradigmen seiner Theorie: Verdrängung, Unterdrückung, Wiederkehr, Schuldabwehr etc… Er wagt hier den Schritt von der Individualgeschichte zur Geschichte selbst und deutet zentrale historische Machtmechanismen und Gewaltapplikationen durch deren Einbettung in überraschend sozial-psychoanalytische Kontexte.
Inszeniert wird das Denken von Jenni Luhta, die den meist Zigarre rauchenden, in komfortablen Stuhl sitzenden Freud interpretiert, der langsam und präzis seine Argumente entwickelt, oftmals selbst Einwände formuliert, dann wieder in stilles Lachen oder Ärger ausbricht, immer dann, wenn es um Verdummungsstrategien geht. Kurz, wir sehen einen Intellektuellen des alten Stils, der sich zu den provokantesten Stellungnahmen rein argumentativ vorarbeitet, wie beispielsweise die Unergründbarkeit des Inzuchttabus. Wir erleben einen Mut zum Denken, der in Zeiten politischen Korrektheit kaum mehr zu finden ist. Es macht schlicht Spass, einem Denker bei der Arbeit folgen zu können.
Neben dem hochkomplexen Monolog, der bereits eine mehrfache Lektüre des Filmes verlangt, findet sich reich und präzis ausgewählte Gemälde, Zeichnungen, Karten und Fotografien, zuweilen in Kollagestil, im Hintergrund eingeblendet die in minutiösen Forschungsarbeit durch Lauri Luthas zusammen getragen wurden. Es unangemessen, die Bildzitate als Illustration zu bezeichnen. Vielmehr erzeugen sie nur weitere Assoziationsschichten.
Die Argumentationsdichte und die Fülle der zitierten Bildwerke werden noch ergänzt und kontrapunktiert durch teilweise aggressive Klangbilder. Doch auch andere Fluchtlinien werden ausgebreitet. Freuds Person erscheint vor Naturaufnahmen. Naturlaute wie Vogelgezwitscher und Flussläufe umrunden den intellektuellen Diskus, setzen ihn einer frischen Luft aus.
Hier ist nicht der Ort, um in den Diskurs einzutauchen, doch soll nicht verschwiegen werden, dass Freund nicht weniger unternimmt als – Forschungsliteratur applizierend – plausibel zu machen, das der Gesetzgeber und Gründern der jüdischen Religion kein Jude war, sondern ein nobler Ankömmling der ägyptischen Kultur, der das Erbe des Pharaos Ikhanaton der 18 Dynastie um 1375 BC antrat. Er veranlasste den Auszug der bisher zu Sklavenarbeit herangezogenen Sippen und orientierte sie sie zu einer neuen, erstmalig monotheistischen Religion hin. Ikhanaton suchte die ägyptische von magischen und mythischen und Zauberei gekennzeichneten Region von innen heraus zu verändern und durch einen Sonnengott-Monotheismus zu ersetzen. Sein Leben endete früh. Nach seinem Tod wurden alle Spuren seines Transformationsversuches beseitigt.
Man muss sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen, dass alle Religionskriege auf historisch unhaltbaren Prämissen berufen,: Diese Metzeleien sind um so gewalttätiger, je mehr sie auf Verdrängung der Wahrheit und der Fakten beruhen. Gewalt wird dechiffrierbar als Kaschierungsfigur einer Urlüge. Das Christentum wiederholt lediglich den Vater- und Religionsgründermord unter einem neuen Vorzeichen der Entsühnung.
Freud interpretiert Religion selbst als neurotisch konvulsive Reaktion auf den in Vergessenheit gedrängten Ursprung der eigenen Existenz. Er liest die Religions- und Kulturgeschichte als schlichte Perpetuieren des animalischen Totems zum menschlichen Gott, die beide die gleiche Funktion erfüllen. Erneut hören wir das fast lautlose Lachen Freunds, der sich gedanklich befreit von deren Übermacht fixen Ideen und Stereotypen, ohne zu vergessen, wie real deren faktisch andauernde Macht ist. Das Theorem des „ausgewählten Volkes“ wird ebenso dekodiert wie alle Formen des Belohnungs-Glaubens, der die Wiederkehr eines prähistorischen Barbarismus, wie etwa das des Nazi-Deutschlands, möglich macht, ohne auch nur eine progressive Idee oder Utopie zu beinhalten.
Wie nebenbei thematisiert Freud die verarmende Auslöschung einer göttlichen Dimension aus der Sexualmoral und die Fragilität einer Ethik, die sich von instinktiven Befriedigungen befreien möchte.
Jenni und Lauri Luhta schaffen ein beeindruckendes Werk der Dramatisierung des Denkens und des Denkers. Deep Knowledge geht einher mit Spiellust und ironischer Leichtigkeit. Moses und Freund begegnen sich wie Gott und der Mensch in Michelangelos Tableau, das hier auch visuell in Szene gesetzt wird.
Historische Fakten wie Geschwisterheirat in pharaonischen und ptolemäischen Zeiten werden en passant zitiert, bis hin zu Freunds Infragestellung jeder Form des Glaubens und übernommener Überzeugungen. In der ihm üblichen eleganten Weise formuliert er: „Wir können nur bedauern, dass gewisse Lebenserfahrungen und Beobachtungen weltweiter Zustände es und verbieten, die Annahme eines übergeordneten, sublimen Intelligenz zu akzeptieren.“
In einer der letzten Szenen kehren die Naturlaute zurück und Moses steigt eine Treppe hoch, zu einem unbekannten Ende.
Von Jenni Luhta und Lauri Luhta; mit Jenni Luhta und Lauri Luhta; Finland; 2024; 94 Minuten.
Dieter Wieczorek
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