j:mag

lifestyle & responsible citizenship

Cinéma / KinoCulture / KulturMostra 2025

Sotto le nuvole (Below the Clouds) von Gianfranco Rosi: Neapel – symbolischer Ort der ständigen Bedrohung alles Lebendigen

Gianfranco Rosi präsentiert in Venedig ein der destruktiven planetaren Situation angemessenes Werkes.

— Sotto le nuvole von Gianfranco Rosi
Foto mit freundlicher Genehmigung Mostra von Venedig

Gianfranco Rosi ist ein Dokumentarfilmer, der seine Werke erst am Drehort entstehen lässt. Zufällige Begegnungen und die notwendige Zeit für ein erst langsam sich entwickelndes Vertrauen seiner Protagonisten, bevor die Kamera läuft, sind die Basis seines Filmstiles. Auf diese Weise gelingt ihm das Einfangen von sonst kaum zugänglichen Situationen und Szenen. Sein Herkunftsland Italien stand im Zentrum seiner letzten beiden Werke. Sacro GRA (2013) präsentierte zumeist einfache Bürger der römischen Peripherie. Dieses Werk trug den Goldenen Löwen Venedigs 2013 davon, ein Meilenstein des Durchbruches für das Genre Dokumentarfilm. Die Migrationskrise, die auf der sizilianischen Insel Lampedusa die sichtbarsten Formen annimmt, war 2016 Thema seines Werkes Fuocoammare (Fire and Sea).

Das nun präsentierte letzte Element seiner Trilogie, Sotto le nuvole (Below the Clouds), trägt trotz seiner Situierung in Neapel eine deutlich globalisierende Signatur.  Bereits der Titel ist Jean Cocteaus Wort: „Vesuvius makes all the clouds in the world” entnommen, das bereits eine globale Perspektive evoziert. Neapel ist die weltweit wohl bekannteste Stadt, die mit der ständigen Bedrohung ihrer Ausschlöschung konfrontiert ist. Der aktive Vulkan Vesuv erinnert an sein destruktives Potenzial durch häufige, zumeist leichte Erderschütterungen.

Konsequenterweise bildet die Notrufzentrale Neapels einen der Schwerpunkte in Rosis Film. Hier wird regelmässig angefragt, ob die letzten Beben Vorzeichen eines tatsächlichen Vulkanausbruches sind. Die Nervosität der Bevölkerung kann an diesem Ort problemlos eingefangen werden. Ernsthafteste Notrufe, wie der einer von ihrem Mann körperlich schwer attackierten, vor ihren Kindern geschlagenen und nach schneller Hilfe flehenden Frau, stehen neben eher anekdotischen, harmlosen Anrufen, die nach der Uhrzeit fragen. Dieses weite Panorama der Stimmen und Situationen sind prägend für Rosis Stil. Er will keine fixierten Thesen belegen, sondern Einzelbeobachtungen zu einem Gefüge zusammen schliessen.

Bereits kurz nach der Weltpremiere wurde Kritik laut, dass die einzelnen Sequenzen sich nicht zu einem kongruenten Ganzen zusammenfügen. Doch war dies kaum Rosis Intention. In der Tat lassen sich die Kamerafahrten durch die engen, unbeleuchteten, von Grabräuber angelegte Tunnelanlagen, die Nachhilfestunden eines älteren wohlgesinnten Mannes in einer kleinen Bibliothek, eine syrische Schiffsbesatzung, die Weizen aus der Ukraine liefert, wo ihre Kollegen kürzlich getötet wurden, staubige Museenkeller, in denen Fundreste und Statuetten Stück für Stück analysiert werden, eine Universitätsgruppe um einen japanischen Archäologieprofessor sowie weitere Szenarien nicht zu einem konsistenten Ganzen fügen, aber zu einem facettenreichen Panorama eines ständig auf unterschiedlichste Weise sich mit dem Tod konfrontierenden Lebens.

Selbst der Nachhilfelehrer liest Hugos Les Misérables und vergleicht die soziale Situation seiner Zöglinge mit der von Hugo beschriebenen sozialen Wirklichkeit. Um das Vertrauen der syrischen Schiffsbesatzung zu gewinnen, verbrachten Rosi und sein Team drei Tage und Nächte auf ihrem Schiff, und um die kulturelle Distanz eines japanischen Professors zu durchbrechen, brauchte es drei Jahre. Rosi nimmt sich diese Zeit, um Situationen möglichst authentisch einzufangen.

Die Partikularität seines nun in Venedigs Wettbewerb gezeigten Werkes ist die Kreation einer metaphorisch existenziellen Landschaft, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschliesst zu einem Lebensgefühl des Schwedens über dem Abgrund, das auch die aktuelle politische Weltsituation auf den Punkt bringt. Er nutzt die scharfen Kontraste seiner rein in Schwarz-Weiss gehaltenen Bilder, um eine bloss eindimensionale Erfassung realistischer Situationen zu überschreiten hin zur Evokation einer global umspannenden, symbolischen Dimension. Seinen eigenen Worten nach will Rosi Realität transformieren.

Um Gegenwart als schon verlorene Vergangenheit zu extrapolieren, nutzte Rosi auch einen Theaterraum, indem er historische Filmmaterialien zur neapolitanischen Wirklichkeit projiziert. Die Zeit wird hier zur Endlosschlaufe, das Leben zu einer (noch) konservierten Schutzzone. Destruktion und alle Versuche, ihr zu entgehen, kristallisieren sich zum Leitmotiv in Rosis Werk. Selbst die im Film erscheinenden Skulpturen, die Zeit zu suspendieren scheinen, müssen konserviert und restauriert werden, ein endloses Werk gegen den Tod.

Dass angesichts des Todes das Leben sich im besonderen Masse vitalisiert, auch dafür steht Neapel und Rosi integriert auch diesen vitalen und aufsässigen Aspekt des lokalen Lebens in sein Werk. Selbst im Notrufraum darf schon einmal gelacht werden.

Die Vermeidung aller spektakulären Effekte und Szenen ist die Qualität einer Form des dokumentarischen Filmemachens, das sich vor allem einfügen will in subtile Aspekte des Realen, die daraufhin das Endprodukt Film authentisch durchdringen können.

Von Gianfranco Rosi; Italien; 2025; 115 Minuten.

Dieter Wieczorek, Venedig

© j:mag Tous droits réservés

Dieter Wieczorek

Journaliste/Journalist (basé/based Paris-Berlin)

Dieter Wieczorek has 35 posts and counting. See all posts by Dieter Wieczorek

Laisser un commentaire

Votre adresse e-mail ne sera pas publiée. Les champs obligatoires sont indiqués avec *

*