10. StummfilmLiveFestival (29.08-08.09.2019) im Kino Babylon: 1929! Premiere – Dimitri Schostakowitsch ungekürzt
Das Kino Babylon ist in vielerlei Hinsicht geschichtsträchtig: Es befindet sich am Rosa-Luxemburg-Platz, gegenüber der Volksbühne; das Gebäude, in dem es sich befindet, ist Teil eines denkmalgeschützten Gebäudekomplexes und im Jahr 1929 wurde das Babylon als Stummfilmkino eröffnet. Zur musikalischen Begleitung der Filme gab es einen Orchestergraben und eine Kinoorgel. Beim Umbau im 1948 wurde der Orchestergraben geschlossen und die Orgel abgebaut.Das Kino diente bis 1989 als Spartenkino der DDR. Nach der Wende musste das Kino saniert werden wobei der Orchestergraben des grossen Saals wiederhergestellt wurde, sodass nun wieder Musik zum Film live in Kammerorchesterbesetzung gespielt werden kann. 1999 wurde die damals 70 Jahre alte Philipps-Kinoorgel restauriert, die damit als einzige Kinoorgel in Deutschland noch am Original-Standort betrieben wird.
So liegt es in der Natur der Sache, dass das Kino Babylon einen besonderen Tropismus mit Stummfilmen und musikalischer Begleitung hat: Regelmässig werden Stummfilme auf der Orgel von der offiziellen Organistin des Kinos, Anna Vavilkina, begleitet, die sogar die Ausstrahlung von Spielen der letzten beiden Fussballweltmeisterschaften durch Improvisation über die Feldaktionen begleitet hat! Neben dem Stummfilmfestival bietet das Kino jeden Samstag um Mitternacht eine kostenlose Vorführung eines klassischen Stummfilms.
40 Filme aus Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Schweden, aus der Sowjetunion und den USA
Das 10. StummfilmLiveFestival im Babylon präsentiert vom 29. August bis 8. September den End- und Höhepunkt der Stummfilmära: 40 Filme aus Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Schweden, aus der Sowjetunion und den USA aus dem Schicksalsjahr 1929. Das Jahr, in dem das Babylon mit seiner grossen Kinoorgel und dem Orchestergraben eröffnet wurde. Und am Horizont, im Westen, unaufhaltsam, der Tonfilm erschien.
Das Festival eröffnet am 29. August um 19.30 Uhr mit einer ganz besonderen Film-Musik-Premiere des Babylon Orchesters Berlin unter der Leitung des Dirigenten Marcelo Falcão: Nach 90 Jahren finden erstmals in Deutschland der von Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) komponierte, vollständige Score und der ungekürzte Film Das neue Babylon von Grigori Kosinzew (1905-1973) und Leonid Trauberg (1902-1990) in der ursprünglich gedachten Weise zusammen.
Das junge, künstlerische Trio – alle unter 30 Jahre – war ästhetisch neuartig, gewagt, provokativ. Es wollte das Publikum filmisch wie musikalisch herausfordern. Die Komposition sollte nicht, wie damals üblich, das Geschehen nur illustrieren. Schostakowitschs originale Partitur arbeitete mit innovativen Techniken, dem Kontrastprinzip und dekonstruierte sogar die Marseillaise. Nach der 2010 auf der Berlinale gefeierten Wiederentdeckung der fast vollständigen Originalfassung von Metropolis erwartet das Publikum nun erneut eine besondere Premiere.
Composer’s Cut
Die Uraufführung von Das neue Babylon fand am 18. März 1929 in Leningrad statt. Doch wenige Wochen vor der Premiere kürzte die Zensur den Film über die Niederschlagung der Pariser Commune um etwa 25 Prozent bzw. 30 Minuten und änderte damit grundlegend die Narration.
Die individuelle Geschichte des Paares Louise und Jean – sie Verkäuferin im Kaufhaus „Das neue Babylon“ und leidenschaftliche Kommunardin, er politisch unbedarft und vom Land – wird zugunsten des kollektiven Portraits dieser rebellischen Zeit verdrängt, herausgeschnitten. Das verstärkt das Alleinstellungsmerkmal des Filmes, er wird nun noch avantgardistischer, kubistischer. Aber die Musik, die mit vielen neuartigen Techniken arbeitet, kommt nicht hinterher. Schostakowitsch, der in Rekordzeit seine erste Filmmusik in dreifacher Version komponieren sollte, musste in kürzester Zeit seine musikalische Montage entscheidend umarbeiten. Die Premiere war ein Fiasko, die Zuschauer riefen: „Der Dirigent ist betrunken“.
Seither wird ein Torso auf die Leinwand projiziert. Auch bei der aufwendigen arte Produktion zum 100. Geburtstag des Komponisten fehlen 25 Prozent von der Musik. Wahrscheinlich hat Schostakowitsch selbst nie seine Partitur mit Orchester und Film so erleben können, wie er sie ursprünglich komponiert hat. Er stand am Anfang seiner Karriere, 22 Jahre jung.
Timothy Grossman, Babylon Geschäftsführer und Mitgründer des Babylon Orchester Berlin:
„Am 29. August erleben Sie eine Zeitkapsel. Ein im Permafrost konserviertes Mamut wird wieder zu neuem Leben erweckt. Was ist Zeit? Ein Wimpernschlag. Aus dem ägyptischen Sarkophag ziehen wir die unzerstörte Nofretete. Die deutsche Premiere eines Jahrhunderttalents. Man darf gespannt sein!“
Der Eintritt zur Eröffnung & Schostakowitsch-Premiere am 29.08. um 19.30 Uhr kostet 25 Euro, der Eintritt zu allen anderen StummfilmLive Veranstaltungen ist frei.
Alle Festivalfilme:
A Cottage on Dartmore, Alles dreht sich, alles bewegt sich; Arsenal, Asphalt, Au Bonheur des Dames, Blackmail, The Broadway Melody, Die Büchse der Pandora, Frau im Mond, Die Frau, nach der man sich sehnt; Fräulein Else, Die fidele Herrenpartie, Die Generallinie, The Great Gabbo, Der Hund von Baskerville, Ich küsse ihr Hand, Madame; Ihr dunkler Punkt, Im Frühling, The Kiss, The Love Parade, Lucky Star, Der Mann mit der Kamera, The Manxman, Menschen am Sonntag, Mutter Krausens Fahrt ins Glück, Les Mystères du chateau de Dé, Nachtgestalten, Das neue Babylon, Picadilly, Queen Kelly, Der Sonderling, Spite Marriage, Sprengbagger 1010, Der Sträfling aus Stambul, Tagebuch einer Verlorenen, Thunderbolt, Un Chien Andalou, Und Nelson spielt, Die weiße Hölle von Piz Palü, The Wolf Song, Die wunderbare Lüge der Nina Petrowna, Der Würger.
Malik Berkati
© j:mag Tous droits réservés