Berlinale 2023 – Bericht aus der Sektion Panorama
Nach dem extrem starken Panorama- Jahrgang 2022 war die Auswahl diesmal ein wenig schwächer. Aber auch in diesem Jahr gab es wieder viele gute Filme zu entdecken.
Joan Baez I Am A Noise von Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle bot eine grosse Überraschung. Der Dokumentarfilm zeigt nicht nur ihre musikalische Karriere und ihre Meriten als Bürgerrechtlerin, sondern legt einen grossen Schwerpunkt auf ihre Selbstzweifel, Depressionen und die vermeintliche Belästigung durch den Vater in ihrer Kindheit. Das Joan Baez eine der grossen Figuren in der Musikwelt ist, ist allgemein bekannt. Und ihre Rolle als Bürgerrechtlerin gegen den Vietnamkrieg, für Schwarzenrechte und andere politische Themen ebenfalls. All dies kommt vor, in Dokumentartaufnahmen und Interviews mit ihr selbst, ihrer Schwester und anderen, aber sehr viel weniger als in anderen Dokumentarfilmen über sie. Da wird vor allem bei der Musik so einiges weggelassen. Das ihr früherer Freund und Weggefährte Bob Dylan im Film nicht zu Wort kommt, wundert nicht. Kommt er als überheblich und unangenehm rüber. Der Kampf gegen ihre Depressionen und ihre vielen Zeichnungen waren weitgehend neu, aber sehr interessant. Aber die sehr verschwommenen Überlegungen über die sexuellen Belästigungen gegen ihren Vater überladen den Film etwas, da sie nur durch einen obskuren Heiler und nicht abgesichert hervorkommen. Verwoben ist das mit Teilen ihres Abschiedskonzerts, von dem man sich aber längere Liederpassagen gewünscht hätte.
Stille Liv von Malene Choi spielt auf einem Bauernhof in der dänischen Provinz. Carl ist ein Adoptivkind aus Südkorea und soll später den Hof übernehmen. Aber seine Neugier nach den echten Eltern wird immer grösser. Der sehr ruhige Film zeigt das arbeitsreiche Leben in einem Agrarbetrieb und die Frage, inwieweit man einen Sohn oder Adoptivsohn zur Nachfolge treiben sollte. Der Film über eine Selbstfindung fasziniert durch die ruhigen Darstellungen der guten Schauspieler.
Sages-Femmes von Lea Fehner folgt zwei Hebammen am Anfang ihres Berufslebens. Auf der Entbindungsstation sind viel zu wenig Beschäftigte, keiner hat Zeit für irgendetwas und Einsparungen im Klinikbetrieb sind an der Tagesordnung. Ein männlicher Hebammen- Azubi möchte gerne bei Geburten dabei sein und wird immer abgelehnt. Als eine Obdachlose entbindet und die drei ihr zunächst Obdach in ihrer WG gewähren, werden die Probleme noch grösser. Der Film zeigt in sehr unterhaltsamer Weise den Alltag und die Überbelastung im Gesundheitswesen und die daraus folgenden psychischen Probleme der Angestellten. Ein guter Spielfilm in Ergänzung zur thematisch ähnlichen Doku Notre Corps von Claire Simon im Forum.
Propriedade des Brasilianers Daniel Bandeira zeigt Klassenunterschiede und den Kampf ums Überleben in Form eines spannenden Thrillers. Als die langjährigen Angestellten erfahren, dass sie wegen Verkaufs des Familienguts entlassen werden sollen, und nicht mal ihre Pässe bekommen werden, bis sie ihre aufgelaufenen Schulden bezahlt haben, kommt der Aufseher zu Tode. Die Revolte hat begonnen. Als Teresa und ihr Mann auf dem Gut eintreffen, wird Teresas Mann schwer verletzt. Sie kann in ihr Auto fliehen und sich in dem gepanzerten Wagen verschanzen. Nun beginnt der Versuch, sie aus dem Auto zu bekommen. Da werden alle Register gezogen, von beiden Seiten. Auch wenn es zunächst nach einem guten Ende für die Arbeiter aussieht, bleibt es realistisch. Denn die Käufer treffen ein. Ein starker Film als Thriller, aber auch gleichzeitig von der Aussage.
Hello Dankness zweier australischer Schwestern, die unter dem Kollektivnamen Sodajerk firmieren, haben einen höchst ungewöhnlichen Film gemacht. Aus hunderten Filmausschnitten wird ein neuer Film geschaffen. In die vielen Ausschnitte aus dem Film The Burbs mit Tom Hanks und Bruce Dern werden immer neue Teile aus anderen Filmen eingeschnitten, teils mit neuem Ton und einkopierten Wahlplakaten von Trump, Clinton oder Bush. Dies führt zu einem neuen Film mit neuer Bedeutung und zeigt ein Kaleidoskop über den politischen Wandel in Amerika und die kulturellen Änderungen durch die Zeiten. Anstrengend, aber auch faszinierend.
Der Film Inside von Vasilis Katsoupis bietet eine echte One-Man-Show von Hauptdarsteller William Dafoe. Er spielt Nemo, einen Kunstdieb, der in einem Penthouse wertvolle Gemälde stehlen will. Doch der Sicherheitscode stimmt nicht und er ist tagelang gefangen in der Wohnung. Gesichert durch eine Hightech- Anlage, die nicht funktioniert, kämpft er erst mit Hitze, dann Kälte und auch Wasser und Essen werden knapp. Ablenkung bieten nur die Sicherheitskameras, durch die er die Lobby, die Putzfrau und anderes beobachten kann. Da auch kein Ton nach außen dringt, wird auch keine Hilfe kommen. Was also tun? Ein Film, der mit William Dafoe steht und fällt.
La Bête dans la jungle von Patric Chiha spielt 25 Jahre lang in einem Club. Anfangs noch mit Disco- Musik, später dann mit Techno. Ein Mann (Tom Mercier) und eine Frau (Anais Demoustier) lernen sich kennen und sie ist fasziniert von seiner geheimnisvollen Art. Denn er wartet auf ein grosses Ereignis, von dem er nicht weiss, was es ist. Erzählt wird die Geschichte von der Clubbesitzerin (Beatrice Dalle). Ein Film, der zeigt, wie schnell das Leben vergeht, was durch Obsessionen passieren kann und wie sich die Zeiten ändern. Am Schluss dürfen Erwachsene nicht mehr in den Club. Und der Film beweist, dass Disco gar nicht so schlecht war. Im Vergleich dazu ist der Nachfolger Techno viel eintöniger. [Hier die Kritik von Malik Berkati und das Interview der Komponistin der Musik Yelli Yelli, auf Französisch.]
Weitere starke Filme waren Al Murhaqoon von Amr Gamal über Probleme mit Abtreibungen im Bürgerkrieg im Jemen, Heroico von David Zonana über böse tödliche Riten in der mexikanischen Armee, Reality von Tina Satter aus den Prozessakten einer Whistleblowerin, Stams von Bernhard Braunstein über ein Tiroler Skiinternat und Sisi und Ich, von Frauke Finsterwalder, eine weitere Variante über das späte Leben der Kaiserin Sisi, diesmal komödiantisch.
Harald Ringel, Berlin
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