Berlinale 2024 – Forum: Die Mischung machts
War das Forum in den letzten Jahren immer mehr zur Abspielstätte von Essays und Experimentalfilmen geworden (was auch an der Einführung von Encounters lag), will die neue Forumsleiterin Barbara Wurm wieder eine grössere Bandbreite bieten, wie es einst bei Erika und Ulrich Gregor der Fall war. So gibt es in diesem Jahr auch wieder Spielfilme, „normalere“ Dokumentationen und Genrefilme (wie früher bei den beliebten Mitternachtsfilmen, nur nicht mehr um Mitternacht) im Programm. Die neue Ausrichtung ist voll gelungen und so fiel es mir schwer viele gute Filme in diesem Artikel wegzulassen.
Romuald Karmakar war schon immer in Spielfilm (Der Totmacher) und beim Dokumentarfilm (Das Himmler- Projekt) zu Hause. In seiner neuen Dokumentation Der unsichtbare Zoo porträtiert er den Zoo Zürich, der dafür bekannt ist, ein möglichst naturnahes Erscheinungsbild zu bieten. Hauptaugenmerk wird hier auf all das gelegt, was normalerweise für den Besucher so nicht zu sehen ist. Gezeigt werden Planungen neuer Gehege, all das, was getan werden muss, um den Zoo am Laufen zu halten, wie Bereitstellung von Futtermitteln, Krankenstationen für z. B. einen isolierten Tiger oder aber die Einstellung von Sprinkleranlagen im Tropenhaus. Auch der Verwaltungsapparat z. B. bei Bewerbungsgesprächen für freiwillige Helfer kommt vor. Unangenehm anzusehende Szenen, wie die Erschiessung eines vereinsamten Zebras mit anschliessender Verfütterung an die Löwen werden nicht ausgespart. Der dreistündige Film lässt viel Zeit für die Reflektion über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Karmakar wandelt hier auf den Spuren des grossen Dokumentarfilmmeisters Frederik Wiseman und seinen beobachtenden Dokumentationen. Und dies ist ein grosses Kompliment.
In Redaktsiya (The editorial office) zeigt der ukrainische Regisseur Roman Bondarchuk wie korrupt es in der Ukraine zugeht. Da werden Wahlen manipuliert, die Presse wird geschmiert und erpresst sogar Leute. Jura (Dmytro Bahnenko) ist Biologe und forscht nach einem als ausgestorben geltenden Murmeltier in der ukrainischen Steppe. Als er dabei mit einem Freund eine Brandstiftung beobachtet und der Freund spurlos verschwindet, will er die Tat öffentlich machen. Doch das Nachrichtenportal, an das er sich wendet, macht zwar Zusagen, wird den Fall aber nie bringen, wird der Chef von den Tätern immer gut geschmiert. Als er seine Stelle im Naturkundemuseum verliert, wird er zunächst sogar beim Portal angestellt, merkt aber schnell, wie übel es auch dort zugeht. Der Film ist eine gekonnte Mischung zwischen Politsatire, Science Fiction und trauriger Wahrheit. Seine Hauptakteure (Jura und seine Kollegin) sind sympathisch und erlauben immer noch Hoffnung in die Zukunft. Auch diverse Politiker vieler Länder (inklusive Trump und Scholz) bekommen in der haarsträubenden Schlusssequenz ihr Fett weg.
Oasis Of Now von Chee Sum Chio (Malaysia,Singapur,Frankreich) spielt in einem Apartmenthaus in Kuala Lumpur, das von Migrant:innen verschiedener Nationen bewohnt wird. Hanh (Thi Diu Ta) ist aus Vietnam und musste ihre Tochter zu einer Pflegemutter geben. Trifft diese aber immer wieder heimlich auf der Treppe ihres Hauses. Gleichzeitig kümmert sie sich um ein anderes Kind. Sie ist ständig bei der Arbeit zu sehen, oft verwischt sich Traum mit Realität. Durch Verhaftungen auf der Strasse wird klar, auch sie hat keine Papiere und ist quasi rechtlos. Als sie ihre Tochter von der Pflegemutter zurückholen will, will diese aber nicht wirklich mitgehen. Auch dieses Dilemma wird am Ende offen bleiben. Bemerkenswert ist die Hauptdarstellerin, die eigentlich gar keine Schauspielerin ist, sondern eine Nail-Artistin.
Mit einem Tiger schlafen von Anja Solomonowitz zeigt die Lebensgeschichte von Maria Lassnig. Eine nach langen Jahren des Kampfes berühmt gewordene Künstlerin aus Österreich. In der Kindheit, im Bauernhaus der Grossmutter beginnt sie zu malen. Von der Mutter gelobt für das schöne Porträt eines Gastes, erfährt sie dann aber Ablehnung, als sie malen will, was sie möchte. Als in einer Ausstellung ihr Bild wegen Nacktheit zugehängt wird, lernt sie einen Kollegen kennen, der ihr Lebenspartner wird. Doch der ist nur an seiner Kunst interessiert. Frauen hatten es in der Kunstwelt immer schon schwerer, aber da ist auch Neid mit im Spiel. Als sie einen Teil des Biennale-Pavillions in Venedig bekommt, ärgert sie sich, weil nur die Performancekünstlerin beachtet wird. Dann beginnt sie auch Kurzfilme zu drehen, die im Forum-Special ebenfalls zu sehen sind. Vor ihrem Tod wird sie aber auch immer wunderlicher. Ein gut gemachtes Porträt einer zunächst unterschätzten Künstlerin. Gespielt wird sie von Birgit Minichmayr, die praktisch zu ihrer Figur wird. Auch viele Bilder sind zu sehen und viel in diesem Film ist quasi dokumentarisch.
Yoake no subete (All The Long Nights) des japanischen Regisseurs Sho Miyake führt zwei Menschen mit unterschiedlichen Problemen zusammen. Misa (Hokuto Matsumura) leidet unter dem Prämenstrualen Syndrom. Dadurch rastet sie oft völlig aus, schläft aber auch plötzlich ein. Als sie den Job wechselt und in einer Astronomiesets fabrizierenden Firma arbeitet, lernt sie dort ihren Kollegen Takatoshi (Mone Kamishiraishi) kennen. Der ist still, hat kaum Kontakt zu den Anderen und sagt Niemandem, dass er an einer Angststörung leidet. Die beiden kommen sich näher und helfen sich gegenseitig ihrer Behinderungen Herr zu werden. Dies ist zutiefst sympathisch und märchenhaft schön. Und für beide bedeutet dies auch zu sich selber zu finden. Ein schöner bezaubernder Film, bei dem beide Darsteller ihre Zustände und Annäherungen erstklassig verkörpern.
Kottukkaali (The Adamant Girl) von Vinothraj PS macht fehlende weibliche Selbstbestimmung, überholtes Kastendenken und den Glauben an übernatürliche Bessenheit zu seinen Themen. Meena und Pandi sollen heiraten. Das haben beide Familien beschlossen. Doch Mina liebt einen Anderen, der einer minderen Kaste angehört. Wollte sie sich anfangs noch fügen, will sie nun nicht mehr. Schliesslich wird Pandi ihr gegenüber oft übergriffig. Sie beschliesst nur noch zu schweigen und alles an sich abperlen zu lassen. Da kann nur ein Dämon im Spiel sein. Also machen sich beide Familien auf die lange Fahrt zu einem ländlichen Exorzisten. Sie sehen bei der Dämonenaustreibung der vorigen Besucher zu. Spätestens hier wird jedem klar, was für ein Humbug all dies ist. Der Film kritisiert all dies und die überkommenen Traditionen und dies sehr interessant verschachtelt und gleichzeitig unterhaltsam. Und am Ende bleibt ein Hoffnungsschimmer am Horizont: Der Bräutigam scheint den Humbug auch zu durchschauen. Stark.
Marijas Klusums (Maria’s Silence) des Letten Davis Simonis erzählt von der Schauspielerin Maria Leiko. Die hat in Deutschland Karriere gemacht und gilt als Muse des deutschen Kinos. Als ein hochrangiger Geheimpolizist sie nach Hause ruft, weil ihre Schwester bei der Geburt ihrer Tochter gestorben ist, reist sie in die UdSSR. Sie will sich um die Kleine kümmern, sie adoptieren. Doch dafür muss sie erst mal dableiben. Sie lässt sich überreden, in Moskau am lettischen Skatuve-Theater zu spielen. Doch das Stück misfällt Stalins Schergen. Sie wird zu einer Tournee gezwungen, und soll nach der Verhaftung ihrer Kollegen gegen sie aussagen. Als sie sich weigert, beginnt eine Tortur aus Folter bis zu ihrer Erschiessung. Das Ganze ist ein auf Tatsachen basierendes Lehrstück über Machtmissbrauch in der stalinistischen Ära, ist aber heute noch genauso aktuell.
Alexander Horwath ist Autor, war früher Direktor der Viennale und des Österreichischen Filmmuseums. Als er 1980 in Paris ein Interview mit Henry Fonda sieht und gleichzeitig viele seiner Filme im Kino, beginnt sein Interesse an der Person des Schauspielers. In seinem ersten Film Henry Fonda For President porträtiert er diesen nun. Aber nicht nur dies. Neben den Schritten seiner Karriere mit vielen Filmausschnitten werden auch seine Art zu spielen, die viel mehr war als nur die Rolle des typischen Amerikaners, die Beziehungen zu seinen Ehefrauen und das schwierige Verhältnis zu seinen erfolgreichen Kindern Peter und Jane behandelt. Er war stets das Bild des perfekten Amis, auch wenn seine Gesinnung eher links und sozial war. Darin wurde er von seinen Kindern noch überholt. Gleichzeitig ist das filmische Essay aber auch ein Film über die Geschichte der USA, von seinen einwandernden Vorfahren bis zu seinem Tod. So gibt es Ausflüge in diverse Orte, wie dem Ok-Korral. Der gesamte Ort lebt nur von seiner Vergangenheit und ist gleichzeitig Ort des Erinnerns, aber auch durch den Tourismus einzige Einnahmequelle für das Städtchen. Der Film kritisiert das Über-Ego der Amerikaner, aber auch Henry Fonda war stolz darauf, Amerikaner zu sein. Die 184 Minuten Laufzeit wird einem dabei nie langweilig und kommt einem nicht zu lang vor.
Im Forum-Special läuft der Film Mother And Daughters, Or The Night Is Never Complete der georgischen Regisseurin Lana Gogoberidze und ihrer Tochter Salome Alexi. Lana Gogoberidze porträtiert darin das harte und von den Russen verfolgte Leben ihrer Mutter Nutsa. Die war die erste Regisseurin Georgiens, die im Gulag landete und keine Filme mehr machen konnte. Erst in den letzten Jahren sind wieder Kopien ihres Werkes aufgetaucht. Gleichzeitig gibt es viele Ausschnitte aus den Filmen Lanas, die belegen, dass sie hauptsächlich aus ihrem Leben und dem Leben ihrer Mutter erzählte. Im März wird es im Berliner Arsenal eine Retrospektive beider Regisseurinnen geben.
Harald Ringel, Berlin
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