Berlinale 2025 – Forum: Ungewöhnliche Spielfilme und gute Dokumentationen
Das Programm bestand in diesem Jahr jeweils zur Hälfte aus Dokumentarfilmen und aus Spielfilmen, die man sonst so nicht ohne weiteres sieht. Ergänzt vom Forum-Special zur politischen Gegenwart und Problemen durch den Blick auf die Vergangenheit. Einige Filme waren dabei Hybride, also eine Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm.
© GossingSieckmann / filmfaust / Kochmann
Der interessanteste Film und ein Paradebeispiel für einen hybriden Film war Sirens Call der beiden Künstlerinnen Miri Ian Gossing und Lina Sieckmann. Die lernten 2017 in Portland, Oregon Gina Ronning kennen, eine Traumapsychologin und soziale Aktivistin. Diese gehört zu einer Gruppierung, Mer-Folk genannt, die sich selber als Meerjungfrauen /Meermänner wahrnimmt. Ihr Aka-Name ist daher auch Una The Mermaid. Fasziniert beschlossen sie einen Film über sie zu machen. Dieser ist nun ein interessanter Mix aus Science Fiction und Dokumentarfilm geworden, Una sieht sich als teilweise menschlich, teilweise als eine Art Maschine aus dem All. Als sie nach langer Zeit wieder auf der Erde ist, kommt ihr alles fremd und anders als früher vor. Sie freundet sich mit einer lesbischen Modemacherin an, die ihr die Karten legt. Nun ziehen sie durch die USA und zeigen dabei auf, in welchem Zustand sich Amerika befindet. Folgt das erste Drittel noch einer narrativen Scifi-Erzählstruktur, wird dies im zweiten Drittel mit Interviews mit Mer-Folk-Leuten durchbrochen. Die berichten von ihren Problemen, mit der eigenen Sichtweise auf sich selbst, ihrem Leben und ihrer Sexualität/ transmässigen Wünschen ihre Personality zu verändern. Nach einer Party mit der Community gibt es viele Originalbilder von Demonstrationen und die Angst vor Trump und dem Erstarken der rechten Kräfte in Amerika wird spürbar. Als Zuschauer auf dem tagesaktuellen Stand weiss man, was den Protagonisten jetzt blüht. Am Ende lässt sie sich Kiemen einpflanzen – Fakt oder Fiktion?
Der sympathischste Film war Fwends aus Australien. Die Regisseurin Sophie Somerville erzählt von zwei unterschiedlichen Freundinnen, die sich nach langer Zeit in Melbourne für ein Wochenende wiedersehen. Die eine strotzt vor Coolness und nimmt alles leicht, die andere ist eher Typ vorsichtiger Grübler. Im gesamten Film gibt es eigentlich nur Unterhaltungen, teils tiefschürfend, meist aber nur unkompliziert nett. Als der Wohnungsschlüssel verschwunden ist, streifen beide durch die Nacht und die „vorsichtige“ Freundin taut auf und lässt sich auch mal gehen. Wäre der Film eine amerikanische Produktion, könnte man den Film Mumblecore nennen, wie es einige Jahre im US-Independentfilm sehr beliebt war. Also sozusagen australischer Mumblecore, sehr unterhaltsam anzusehen.
Ein Familiendrama der lockeren Art ist der neue Film des serbischen Altmeisters Zelimir Zilnik Restitucija, ili, san i java stare garde (Eighty plus). Jazzmusiker Stevan ging vor 60 Jahren ins Exil nach Deutschland. Dort und in der Schweiz wurde er gefeierter Star und hatte ein zufriedenes Leben. Seine Frau wollte ihn nicht begleiten und blieb mit seiner Tochter in Serbien. Als der Staat ihm sein Land und das herrschaftliche Elternhaus restutionieren will, kehrt er nach langer Zeit zurück. Freut er sich am Anfang noch seine Familie zu sehen, muss er sich schnell mit Bürokratie und der Berechnung von Frau und Tochter, Geld zu bekommen, herumärgern. Vor allem der Schwiegersohn ist geldgierig und versucht zu vertuschen, dass er an einem Deal mit einem illegalen Pächter gut verdient. Der sympathische Oldtimer lässt sich kaum aus der Ruhe bringen, findet sogar neues, privates Glück. Ein durchaus realistischer Film, aber Dank der Hauptfigur wirklich schön anzusehen. Zelimir Zilnik scheint Altersmilde geworden zu sein, war man von ihm sonst eher unangenehmere Filme gewohnt.
Ein überraschend moderner Film kommt aus Ruanda/Deutschland/ Kamerun. In Minimals In A Titanic World von Philbert Aime Mbabazi Sharangabo wird die Clubtänzerin Anita aus dem Gefängnis entlassen. Sie soll ihre Aggressionen loswerden, sonst landet sie wieder in Knast. Sie möchte Sängerin werden und muss mit der Trauer um ihren toten Freund fertig werden. Der Film zeigt sie auf dem Weg dorthin, kommt dabei mit einer Mischung aus Treffen mit Freunden, Tanz- und Musikszenen und gutem Dekor aus. Und bildet so das afrikanische Leben fernab von sonst häufig benutzten Dorfszenen mit Landwirtschaft und alten Bräuchen ab.
The Swan Song of Fedor Ozerov von Yuri Semashko ist der seltene Fall eines ukrainischen Films, der sich nicht direkt mit dem Krieg mit Russland beschäftigt. Putin kommt hier nur als Bild im Fernsehen vor, der androht, an Neujahr Atombomben zu zünden und damit den Untergang der Welt einläutet. Doch Fedor, Sänger, der im Alleingang eine Platte veröffentlicht hat, ist das ziemlich egal. Ihn interessiert nur eins: wo ist sein Glückspullover, ohne den er keine neuen Songs schreiben kann. Seine Schwester hält ihn für völlig blöd, und will, dass er mit zur Friedensdemonstration vor der russischen Botschaft kommt. Aber er sucht lieber seinen Talisman. Als schliesslich eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt wird, muss er in die Hölle, um seine Schwester zu befreien. Eine sehr eigenwillige Variante von Orpheus und Eurydike, die fabelhaft zu unterhalten vermag.
Wenn Du Angst hast nimmst Du Dein Herz in den Mund und lächelst und ein wunderbarer Jugendfilm aus Österreich von Marie Luise Lehner, der auch gut in Generation gepasst hätte. Anna ist zwölf und lebt in einfachen Verhältnissen alleine mit ihrer taubstummen Mutter in Wien. Im neuen Gymnasium wird sie merkwürdig beäugt, ist ihre Kleidung wie von Oma und wozu braucht man Taubstummensprache? Aber sie findet eine Freundin, die mit ihrer lesbisch anmutenden Mutter lebt. Die wird eine gute Beraterin für sie. Die Mädchen spielen sehr natürlich und werden einem schnell sympathisch. Ein angenehmer Film um Heranwachsen und Feminismus, und ein Plädoyer, so zu sein wie man wirklich ist.
© Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion
Bei den Dokumentarfilmen ragte der längste Film des Programms Palliativstation von Philipp Döring heraus. Trotz seiner Länge von 245 Minuten, die einem nicht so lang vorkamen, bleibt man immer am Geschehen dran. Man sieht das Wirken einiger Ärzte und Krankenpfleger auf der Palliativstation im Berliner Franziskus-Krankenhaus. Hier landen Leute, die nicht mehr komplett heilbar sind, aber eventuell noch einmal nach Hause können. Für viele heisst es danach aber als letzte Station zum Sterben ins Hospiz. Einige sterben auch auf der Palliativstation. Über einen Sommer gedreht zeigt der Regisseur Gespräche der Angestellten untereinander und mit den Patienten, einige wirklich sympathisch, andere weniger. Und die Angehörigen müssen psychisch mitversorgt werden. Auch die ständigen Probleme mit zu wenig Geld oder mit Leiharbeitern werden nicht ausgespart. Jeder muss irgendwann sterben, die Frage ist nur, wie und ob man vor dem Tod mit sich alleine gelassen wird. Reinigungskräfte, die den Gangboden auf einem Fahrgerät mit dem Besen fegen, bilden so etwas wie einen skurrilen Running-Gag.
In Colosal taucht die Regisseurin Nayibe Tavares-Abel tief in ihre Familiengeschichte ein. Ihr Grossvater wurde verfemt, als er mit Wahlbetrug für den Diktator in der Dominikanischen Republik verantwortlich gemacht wurde. Sie versucht mit Interviews, Fotos, gefundenen Tonbandaufnahmen und Archivmaterial dahinterzukommen, was wirklich passierte. So pellt sich das Geschehe wie eine Zwiebel, und zeigt mit was für Methoden der damalige Diktator gearbeitet hat. Der Film beweist, das ihr Grossvater nur wegen Entführungs- und Morddrohungen tat, etwas er tat. Ein Film wie ein Lehrstück.
Der neue Film von James Benniing Little Boy ist ein Begleitfilm zu seinem Film American Dream (Lost and Found) von 1984. Benning zeigt, wie kleine Miniaturen wie Gebäude angemalt werden, bis sie jeweils fertig bemalt und zusammengebaut im Bild sind. Aus dem Off gibt es jedes Mal Tonaufnahmen über Übles, was in der Vergangenheit in der amerikanischen Geschichte passiert ist und was man auch auf heute beziehen kann. Bis man schliesslich bei der heutigen Politik angelangt ist. Etwas anders, als die Filme von James Benning sonst meist sind, aber wieder genauso gut und faszinierend.
Unsere Zeit wird kommen von Ivette Löcker verfolgt ein österreichisch/ gambisches Paar Mitte der Dreissiger in Wien. Victoria und Siaka haben sich vor Jahren ineinander verliebt und wohnen seit dem zusammen. Viele Probleme, wie kulturelle Unterschiede haben sie umschifft, aber der alltägliche Rassismus gegenüber Fremden stört immer noch. Als Victoria schwanger wird, geht es nach Gambia, wo es eine Hochzeit mit hunderten seiner Verwandten gibt. Ein gutes, realistisches Porträt eines Paares, was zeigt, wie man Probleme überwinden kann, wenn man sich wirklich liebt.
Im Special lief The Long Road To The Director’s Chair. Regisseurin Vibeke Lokkeberg drehte 1973 beim Aufbruch der feministischen Filmbewegung beim Ersten internationalen Frauenfilm-Seminar im alten Arsenalkino in der Welserstrasse. Der Film wurde nie fertiggestellt, weil sich kein Geldgeber fand und das Material blieb 50 Jahre verschwunden. Erst 2024, als die Bilder wiedergefunden wurden, fand sich Geld für die Fertigstellung. Der Film ist nicht nur ein Zeitdokument der Frauenbewegung, es ist auch eine schöne Erinnerung mit Bildern des damaligen Arsenals, die man sehr gerne wiedersieht.
Harald Ringel, Berlin
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