Filmauswahl des Jahres 2024 von vier unserer Filmkritiker*innen – Film selection of the year 2024 by four of our film critics – Sélection de films de l’année 2024 par quatre de nos critiques de cinéma
Auch wenn j:mag viele Rubriken bietet, haben unsere treuen Leserinnen und Leser sicher bemerkt, dass dem Kino ein besonderer Platz eingeräumt wird. Wir haben drei unserer Filmkritiker sowie den Chefredaktor gebeten, ihre Lieblingsfilme des vergangenen Jahres zu nennen. Hier ist die Auswahl von Harald Ringel.
Die Auswahl von Firouz E. Pillet (auf Französisch), Agnieszka Pilacińska (auf Englisch) und Malik Berkati (auf Französisch) finden Sie hier.Die Redaktion
Gute Filme in einem eher schwachen Jahr
2024 wird eher als insgesamt schwaches Filmjahr in Erinnerung bleiben. Es gab etwa 50 Filme insgesamt, die wirklich gut waren, dies ist aber bei ca. 1000 offiziellen Filmstarts und Extrascreenings in Deutschland eine eher schwache Quote. Von sehr vielen Filmen kann man sagen, dass sie ordentlich waren, aber halt nicht mehr. Das gilt vor allem für den deutschen Film allgemein, da gab es nur sehr wenig richtig Gutes. Auch bei Blockbustern gab es nicht viel starkes zu sehen, aber wenigstens hat sich der Disney- Trickfilm wieder erholt (Alles steht Kopf2, Vaiana2 ). Hier nun meine 10 Favoriten des Jahres:
C’è ancora domani (Morgen ist auch noch ein Tag) von Paola Cortellesi ist ein seltener Glücksfall des italienischen Kinos. Die Autorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin des Films schafft es eine normale Familiengeschichte mit einem schlagenden Mann (Valerio Mastandrea) und einem Duce-Anhänger als Schwiegervater in der Nachkriegszeit zu einer Geschichte über das Aufbegehren und die Erreichung von Frauenrechten so unterhaltsam und geschickt zu zeigen, dass der Film wohl niemanden kalt lässt.
Le théoreme de Marguerite (Die Gleichung des Lebens) von Anna Novion erzählt die Geschichte von Marguerite (Ella Rumpf), die nur für mathematische Gleichungen lebt. Als sie durch einen Fehler in ihrer Theorie ihre Dissertation nicht abschliessen kann und ihren Doktorvater verliert, muss sie sich dem normalen Leben stellen. Sie verliebt sich, macht Geld als Mahjong-Spielerin und triumphiert schliesslich doch noch. Ein sehr gut gespielter Film, der zeigt, was im Leben wirklich zählt und das man seine Bessenheit in den Griff bekommen kann.
[Die Kritik von Firouz E. Pillet auf Französisch]
Bastarden (King’s Land) von Nikolaj Arcel ist ein weiteres Glanzstück in der Karriere des dänischen Weltstars Mads Mikkelsen. Hier spielt er den auf Tatsachen basierenden Ex- Hauptmann Ludvig Kahle, der heimkehrt und für den König die Heide kultivieren will. Der Weg dahin ist hart und der vermeintliche Besitzer des Landes will ihn um jeden Preis loswerden. Am Ende muss er sich zwischen Liebe und Ruhm entscheiden. Grosses Historienkino, klasse gespielt.
MaxXxine von der Ti West ist der krönenende Abschluss seiner Horror- Trilogie um die Schauspielerin Maxine Minx (Mia Goth). Nach dem Mittelteil X und der Vorgeschichte Pearl hier nun das Ende 1985. Gerade erst vom Erotikstar zur Hollywood- Schauspielerin aufgestiegen muss sie nun auf der Hut sein. Mit ihrer blutigen Vergangenheit von einem Privatdetektiv (Kevin Bacon) erpresst und im Fadenkreuz des echten Serienkillers The Night Stalker muss sie auch diesmal handeln. Eigentlich mehr ein Thriller mit einem furiosen Sekten-Horror- Ende. Ein starkes Gesamtwerk mit einer herausragenden Mia Goth und vielen Zitaten der Genre-Filmgeschichte.
Longlegs von Osgood Perkins ist der seltene Fall eines wirklich ungewöhnlichen Horrorfilms. Vermischt mit einem Thriller. 90er Jahre. Agent Lee Harker (Maika Monroe) ist neu beim FBI und soll den Fall einer Serie von Familienmorden klären. Da kommt ihre Gabe der Hellsichtigkeit gerade recht. Der Serienkiller Longlegs (Nicolas Cage) scheint auf sie fixiert zu sein und scheint sie von früher zu kennen. Nicolas Cage, berüchtigt für seine wahnsinnigen Performances im Genrefilm, geht hier noch einen Schritt weiter: eine transvestitenmässige Gestalt zwischen Wahnsinn und Dämon des Teufels. Ein raffiniertes Drehbuch, starke Schauspieler, einige Überraschungen und unheimliche Stimmung bis zum Schluss.
In Liebe, Eure Hilde von Andreas Dresen ist einer der wenigen guten deutschen Filme dieses Jahr. Erzählt wird aus dem Leben von Hilde und Hans Coppi (Liv Lisa Fries, Johannes Hegemann). Hilde ist Mitglied einer Anti-Nazigruppe 1942 in Berlin. Dort verliebt sie sich in das Mitglied Hans. Nach erfolgreichen Aktionen gegen die Nazis fliegen beide auf und werden verhaftet. Hilde ist gerade im achten Monat schwanger und muss ihr Kind im Gefängnis zur Welt bringen. Schließlich werden beide hingerichtet. Ein gut gespieltes, bewegendes Stück Geschichte aus Zeiten des Rechtsradikalismus, gerade in den heutigen Zeiten wieder wichtig.
In Anora bleibt Regisseur Sean Baker seinem Stammthema Geschichten über Sexarbeiter treu. Der Cannes- Gewinner des Jahres ist aber gleichzeitig auch eine Komödie und das Porträt einer Frau, die sich selbst treu bleibt. Der Film lebt völlig von seiner Hauptdarstellerin Mikey Madison, die eine große Entdeckung ist. Die spielt Anora, eine Stripteasetänzerin in einem New Yorker Club. Dort lernt sie Ivan kennen, der sie für eine Woche privat bucht und sie plötzlich heiratet. Doch als seine Eltern, russische Oligarchen, davon Wind bekommen, wollen die die Hochzeit annulieren lassen. Was folgt ist eine wilde Verfolgungsjagd nach dem Bräutigam, der sich verdrückt hat. Eine filmisch gute Mischung, mit einer sympathischen Hauptdarstellerin, die berührt und Spaß beim Zusehen macht.
[Die Kritik von Malik Berkati, auf Französisch]
Conclave (Konklave) ist der neue Film des Oscarpreisträgers Edward Berger. Ein Film über eine Papstwahl, spannend wie ein Krimi. Basierend auf dem Roman von Robert Harris, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, spielt Ralph Fiennes den Kardinal Lomeli, der nach dem plötzlichen Tod des Papsters die Wahl des Neuen überwachen soll. Dabei muss er auch Geheimnisse lüften. Dabei wird er von Schwester Agnes (Isabella Rosselini) unterstützt. Ein faszinierender und spanennder Thriller, der die Machtstrukturen der katholischen Kirche sichtbar macht. Viele der Kardinäle haben weniger den Glauben im Hinterkopf, als vielmehr die eigene Macht. Und Ralph Fiennes spielt hier eine der besten Rollen seiner Karriere.
[Die Kritik von Malik Berkati, auf Französisch]
Emilia Perez ist Jaques Audiards Meisterstück. Mit zwei Preisen in Cannes gekürt und Gewinner von allen wichtigen Preisen beim Europäischen Filmpreis erzählt er von der unzufriedenen Anwältin Rita (Zoe Saldana), die für den Kartellboss Mantas (Karla Sofia Gascon) alles für eine Geschlechtsumwandlung in die Wege leiten und für das Verschwinden seines alten Lebens sorgen soll. Jahre später trifft Rita sie, nun Emilia, wieder. Doch die vermisst ihre Kinder und will sie und seine Frau Jessi (Selena Gomez) wiederhaben. Gleichzeitig empfindet sie Reue für das frühere Leben und hilft nun Frauen, die ihre verschwundenen Familienangehörigen suchen. Das besondere, neben der Geschichte, ist die Machart des Films. Der wechselt zwischen Drama, Krimi, Komödie und Sozialkritik hin und her und ist zudem auch noch ein Musical mit diversen (qualitativ sehr verschiedenen Liedern). Laut Monsieur Audiard empfindet er es aber eher als Oper. Faszinierend.
[Die Kritik von Firouz E. Pillet, auf Französisch]
Dane-ye anjir-e ma’abed (Die Saat des heiligen Feigenbaums) ist Mohammad Rasoulofs im geheimen im Iran gedrehte Film. Um ihn in Cannes zeigen zu können musste er aus dem Iran fliehen und lebt nun wie seine Hauptdarstellerinnen in Hamburg. Weil auch mit deutschem Geld gedreht und in der Endfertigung in Deutschland hergestellt, ist der Film nun für Deutschland für den Oscar auf der Shortlist. Ein Richter wird endlich befördert und ist nun auch für Todesstrafen gegen Regimegegner zuständig. Seine Familie steht genau auf der anderen Seite. Die Töchter sind befreundet mit einer Demonstrantin ohne Kopftuch. Als diese schwer verletzt, wegen der Karriere des Vaters aber von der Mutter weggeschickt wird, beginnen die Töchter das Handeln des Vaters und die staatlichen Regeln zu hinterfragen. Als seine Waffe verschwindet schreckt er nicht davor zurück auch seine Frau und die Töchter verhören zu lassen. Demonstrationen und Polizeieinsätze wurden als Dokumentaraufnahmen vom Fernsehen und von Privathandys eingeschnitten. Ein wichtiger Film, der zeigt wie der Staatsapparat im Iran funktioniert, wie die normale Bevölkerung, vor allem Frauen unterdrückt werden und wie plötzliche Macht einzelne Menschen zu staatstreuen Unterstützern des Regimes mach.
[Die Kritik von Malik Berkati und das Interview von Mohammad Rasoulof, auf Französisch]
Hoffentlich wird 2025 in der filmischen Gesamtheit wieder etwas stärker.
Harald Ringel
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