FIPADOC – Der Traum eines möglichen Lebens im Irak
Das FIPADOC Festival in Biarritz profiliert sich erneut als Ort des engagierten Dokumentarfilms !
Es ist schwer vorstellbar und doch wahr. Kurz nach der Vertreibung der ISIS aus dem nördlichen Irak haben 6 Journalisten einen Traum, für dessen Realisierung sie alle Mittel aufbringen: die Gründung einer unabhängige Radiostation mit dem Ziel, alle religiösen und ideologischen Schranken zu überwinden und beizutragen zur Etablierung einer neuen friedlichen Staatsgemeinschaft. Das Projekt soll inmitten der ehemaligen ISIS Hochburg Mossul beginnen.
Einer dieser Journalisten ist Ghadeer, der 2014 angesichts der Machtergreifung der ISIS über Griechenland nach Belgien floh, 40 Journalistenkollegen vor Augen, deren Ermordung bereits für der ISIS Machtergreifung begann. Er ist ein offenherziger und hoffnungsstarker Mann, der die Ereignisse in Don´t Come Back aus eigener Sicht kommentiert. Seine eigene Familie missriet ihm, in den Irak zurückzukehren. Doch vor der Kamera kommentiert er:
“Ich habe genug Blut gesehe: Es muss einen anderen Weg geben”
Wir sprechen von einem Land, das sich ab 1980 nahezu ständig im Notzustand befindet, beginnend mit dem Iran-Irak Krieg bis 1988, gefolgt vom zweiten Golf-Krieg 1990-1991, dann unter der Embargozeit leidend, die Millionen der ausgehungerten und isolierten Bevölkerung das Leben kostet, daran an schloss sich die westlichen Besatzungsphase 2006-2007, der Sektiererkrieg zwischen Sunniten und Schiiten 2006-2017 und schliesslich die Okkupation durch die ISIS-Miliz.
Das FIPADOC Festival in Biarritz gibt in diesen Tagen der Geschichte des irakischen Radio One FM Raum. Die beiden Direktoren Matteo Delbò und Chiara Avesani folgen in Don´t Come Back dem Journalisten Ghadeer durch alle Höhen und Tiefen in unverstellter Nahsicht. Er stellt dem Team eigene Aufnahmen von seiner Flucht nach Europa zur Verfügung.
Der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg wird für ihn das Modell, dem zu folgen auch der Irak in der Lage sein könnte. Grundlage ist eine mögliche Solidarität zwischen den einst sich bekämpfenden Formationen. Dieser neuen Bewegung will das Radio eine Stimme geben. Schnell steigende Zuhörerzahlen bestätigen, dass diese Hoffnung geteilt wird. Radio One FMist der einzige politisch und materiell unabhängige, kritisch berichtende Sender im Lande… und darüber hinaus. Der offensichtliche Erfolg lockt schnell Käufer an, deren Angebote jedoch abgelehnt werden. Hier geht es um die Realisation der Vision eines unabhängigen Journalismus. Erste Finanzierungsengpässe werden gemeistert durch die Installierung des Radiostudios in ein für jedermann zugängliches grossräumiges Café, dessen Gewinne die Station finanzieren, ein weltweit wohl ebenfalls einzigartiges Modell.
Korruption verunmöglicht jede strategische Entwicklung des Landes. Selbst der langsame Wiederaufbau schreitet allein durch Eigeninitiativen der Bevölkerung voran. Die Milliardengewinne der Ölförderung verschwinden in diversen Kanälen über den Schwarzmarkt. Jegliche staatliche Struktur fehlt als Ordnungsinstanz. Ein grosses Fährunglück durch ein durch Korruption völlig überladenes Boot ist nur ein Beispiel. Die Reportagen in Radio One FM haben Konsequenzen. Der Gouverneur muss zurücktreten. Doch dies ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein. In jeder Stadt haben sich mafiöse Strukturen gebildet. Die Menschen verlangen nach einem Heimatland, einem Schutz durch einen Staat, der sich seit Hussein Herrschaft sich nicht regeneriert hat.
Im Oktober 2019 wird eine landübergreifende Rebellion brutal niedergeschlagen. Die führenden Parteien verfügen allesamt über eine Privatarmee. 2021 wird er Protestführer Hab al-Wazni mit mehrfachen Schüssen aus nächster Nähe abgeschlachtet. An die tausend Protester werden getötet, weitere 2500 verwundet. Zeugen müssen fliehen.
Währenddessen wird die Radiostation unverhüllt von den führenden Kräften der veröffentlichten Massaker bedroht. Die befürchtete Schliessung lässt nicht lange auf sich warten. Milizen dringen in die Station ein. Doch zwei Wochen später sendet Radion One FM erneut für seine 500 000 Followers. Sie deckt auf, dass keiner der Verantwortlichen des mörderischen Regimes angeklagt wurden. Im Gegenteil, selbst ein Vater, die dem Tod seines Sohnes nachforschte, wurde umgebracht.
Statt auf die wirklichen Probleme zu reagieren, versuchen die Vereinten Nationen und die USA, die Proteste niederzuhalten. Jeanine Plasschaert als UN-Sonderbeauftragte beschränkt sich auf Interviews mit den Führern der mordenden Milizen. Ghadeer weiss um die entscheidende Rolle der internationalen Staatengemeinschaft, die untätig bleibt. Freimütig gesteht er, seine Hoffnung langsam zu verlieren. Solange das Regime nicht unter internationalen Druck gerät, wird sich nichts ändern können. Ghadeer fragt sich, ist dies die Demokratie, die die USA im Irak verankern wollte? Auch die Radiostation muss nun in einzelnen Fällen auf Selbstzensur zurückgreifen. Die Milizen angreifen bedeutet ein grosses Risiko auf sich zu nehmen, Evidenzen zu veröffentlichen würde das Ende bedeuten.
Weiterhin lässt das Radio die Machtlosen zu Wort kommen. Hier wird klar, nur die wenigsten werden an den Wahlen teilnehmen, niemand glaubt an einen möglichen positiven Wandel. Ein unabhängiger Kandidat ist nicht in Sicht. Mit dieser Absenz fällt aber auch das letzte Instrument einer politischen Korrektur weg.
Ein Jahr nach der Wahl im August 2021 hat sich immer noch keine Regierung gebildet. Bewaffnete Konflikte beginnen erneut. Das Parlamentsgebäude wird gestürmt. Das Land versinkt in ein Labyrinth lokaler Machthaber.
Die Covidkrise trägt zudem dazu bei, dass die Schuldenlast die Radiostation zur Aufgabe zwingt. Ghadeer ist Vater geworden und muss an die Sicherheit seiner Familie denken. Es ist bereit, nach Belgien zurückzukehren. Vor der Kamera verbirgt er seine Trauer über seine zerbrochene Hoffnung nicht. Sein Fazit ist einfach: Im Gegensatz zum Nachkriegseuropa hat es für den Irak keinen Marshallplan gegeben. Auch die Förderung demokratischer Strukturen wurde unterlassen. Selbst punktuelle Hilfen blieben aus. Dagegen wurde den korrupten Strukturen Anerkennung entgegengebracht. Dies prägt eine Bevölkerung, die an keinen politischen Wandel glaubt. Sie hat nie die Chance gehabt, eine Veränderung in eigener Verantwortung unter demokratischen Rahmenbedingungen zu erleben.
Auf der Wand einer Hausruine in Mossul lesen wir:
Ein Mensch kann ohne Sicht, aber niemand ohne Hoffnung leben.
Von Matteo Delbò und Chiara Avesani; Italien, Frankreich, Spanien; 2003; 68 min.
Dieter Wieczorek
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