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FIPADOC – Ist Widerstand möglich? Dutzende Aktivisten leben im Freien, um einen Wald zu schützen

Das FIPADOC Dokumentarfilmfestival in Biarritz offeriert Werke zu brisanten Schlüsselfragen. Es ist nur ein Beispiel unter vielen, aber die zentrale Frage in Lonely Oaks ist, bis zu welchem Massemenschen bereit sind, sich – auch physisch – einzusetzen, um Widerstand gegen lebensbedrohende, zukunftsentscheidende Entwicklungen zu leisten. Die Frage mag sich anders stellen in China, Irak, Syrien oder im Amazonas, im Vergleich zum vergleichsweise komfortablen Deutschland, wo es (noch) relativ einfach ist, weitreichende destruktive Prozesse nicht wahrzunehmen zu wollen. Radikal zu handeln, um sich für einschneidende Veränderungen einzusetzen, kann extreme Formen annehmen. Der Unabomber in der USA schickte Briefbomber an einflussreiche Schlüsselfiguren, um die Publikation seiner warnenden Reflexionen in Form eines Manifests in der New York Times oder der Washington Post zu erzwingen. Sein Optimismus bestand darin, an eine Veränderung durch intellektuelles Aufrütteln zu glauben.

Lonely Oaks von Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff
Foto mit freundlicher Genehmigung FIPADOC

Dutzende vorwiegend jungen Menschen besetzen zwischen Aachen und Köln einen Wald dauerhaft, um den Energiekonzern um RWE daran zu hindern, die Waldflächen abzuholzen, um Grabungsarbeiten zur Kohlegewinnung voranzutreiben, ausgerechnet Kohle, die bereits ganz oben auf der Liste der planetarisch zu vermeidenden Energieträger steht. Die Aktivisten versuchen eine Symbiose mit der Natur zu leben: Ihr Lebensmodell kann nicht Autonomie beanspruchen, aber zumindest ist ihr Verweilen in selbstgefertigten Baumhütten weit ökologischer als das Übliche in gut geheizten Wohnungskammern. Sie wollen durch ihre andauernde Aktion die Gesellschaft zum Umdenken veranlassen, vor allem aber, das Naturgebiet als Lebensort einer Fülle von Lebewesen schützen.

Doch die wärme- und lebensmitteltechnisch gut versorgte Mehrheit sieht keinen Anlass zum Umdenken. Sie verkraftet auch leicht die täglichen Katastrophennachrichten in der Tagesschau. Sie wissen auch, dass sie nicht herausgerissen werden wollen aus ihrer besänftigenden Ideologie, dass es schon nicht so schlimm kommen wird und zumindest sie selbst nicht wirkliche Opfer sein werden. Also ernten die Aktivisten Morddrohungen. Die Polizei greift zu, und was dann zuweilen hinter geschlossenen Mauern in den Polizeistationen geschieht, überschreitet bei weitem die Kompetenzen einer „Rechtsordnung“. Von verbalen Degradierungen wird berichtet, Entwürdigungen wie komplettes Ausziehen bis zu Entfernung von Tampons. Die bezeugende Frau musste ihr Menstruationsblut an ihren Beinen herunter laufen lassen. Gewiss, dauerhafte Spuren müssen vermieden werden. Verantwortungslose, auf Wahlstimmen spekulierende Politiker bezeichne die Waldbesetzer als „Terrorzelle“ Deutschlands.

Die Dokumentaristen Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff folgen in ihrem Werk Lonely Oaks vor allem Steffen Meyn der über Wochen hinweg mit einer auf seinem Helm montierten 360° Kamera die Interaktionen im Hambacher Wald einfing. Der ersten Filmsequenzen zeigen Bilder kurz nach seinem tödlichen Absturz im Jahr 2018 aus 15 Meter Höhe. Einer der fragilen, zwischen die Bäume gespannten Kabelstege brach am Tag eines massiven Polizeieinsatzes auf dem Gelände. Die ebenfalls abgestürzte Kamera Meyns nimmt fortlaufend auch die folgenden Minuten auf, vor allem die Erleichterung der anwesenden Polizisten, dass es keine Evidenz einer unmittelbar durch ihren Einsatz verursachte Todesfolge gibt.

Die Filmemacher geben Interviews mit den unterschiedlichen, selbst reflektierenden Besetzern breiten Raum, kontrapunktiert mit Filmsequenzen der Dokumentationsarbeit Meyns der vorhergehenden Monate. Die Besetzer bilden ein weites Panorama der Widerstandsformen und Motive. Ihre Aggressionspotenziale bzw. Dialogbereitschaft angesichts der Bedrohung durch die Interventionen der Ordnungskräfte sind sehr unterschiedlich. Unter den Aktivisten finden sich solchem, die einfach eine autonome Lebensform suchen, solche, die an den Rand der normierten Gesellschaft gepresst wurden, politisch engagierte Protestler, aber auch Drogensüchtige und physisch Unstabile. Sie alle sind im Widerstand, aber aus sehr unterschiedlichen Gründen. Auch die ausgemachten Regeln des Zusammenlebens können in den verschiedene Baumhütten unterschiedlich sein. Küchen- und Wascharbeiten finden gemeinsam am Boden statt.

Alle Aktivisten wissen, dass ihre Protestform nicht dauern kann. Es gibt Anweisungen für den Fall einer Räumung, etwas die, Fingerabdrücke durch Sekundenkleber zu verunmöglichen. Die Besetzung kann nur ein symbolischer Akt sein, für den jedoch viel eingesetzt wird. Einige Aktivisten fragen sich: ist Kompromisslosigkeit förderlich für ihr Forderungen? Kann man friedlich vorgehen in einer von Gewalt gezeichneten Gesellschaft?

Nachdem ein Sicherheitsposten gestürmt wurde, nimmt die Polizeipräsenz zu. Durch Fragen gelingt es der Polizei, die Bewegung zu spalten, die sich niemals durch gemeinsame Diskussionen auf bestimmte Regeln und Standards geeinigt hat.

Am 13. September 2018 räumt ein Riesenaufgebot der Polizei den Hambacher Wald. Presse und an die Tausende Angereiste werden auf Distanz gehalten. Der Räumungsvorwand sind fehlende Brandschutzmassnahmen, obwohl die Dürrezeit bereits beendet ist. Eine Kamera erfasst trotzdem ein brutales Vorgehen gegen eine am Boden liegende Frau. Aktivisten bezeugen zudem, dass die Polizei auch Kabel zwischen den Baumhütten durchschnitt, als die Kamera nicht mehr liefen. Lapidar kommentiert einer unter ihnen: Deutschland kann sich keinen autonomen Raum leisten.

Fabiana Fragales, Kilian Kuhlendahls und Jens Mühlhoffs Werk balanciert ausgewogen zwischen Bildern unmittelbarer Betroffenheit, den Statements und Aktionen, den aggressiven Konfrontationen mit den Ordnungskräften und der Polizei einerseits und andererseits, den erst später aufgezeichneten reflektierten Kommentaren einiger der Okkupanten, die ihre Erlebnisse und Gefühle nachträglich befragen und kommentieren.

Was ist ihr häufigstes Fazit? Es ist hoffnungslos, aber wir machen weiter. Man kann nicht nur für sich allein leben. Ein weiteres Fazit: der Wald steht noch. Viele unter denen, die sich für ihn eingesetzt haben, leben dagegen nicht mehr. Steffen Meyn ist nicht das einzige Opfer. Lonely Oaks ist eines der Werke, die die Frage stellen, ob und wie effektiver Widerstand gegen fatale Entwicklungen überhaupt noch möglich ist.

Von Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff; Deutschland; 2023; 100 Minuten.

Dieter Wieczorek

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Dieter Wieczorek

Journaliste/Journalist (basé/based Paris-Berlin)

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