Berlinale 2020 – Panorama: Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien
Christoph Schlingensief hat das Publikum von Anfang an polarisiert. Von vielen geliebt für seine kompromisslosen Werke, ob im Film, im Theater oder bei seinen zahlreichen Aktionen, von anderen als Provokateur und Trash-künstler abgelehnt. Aber egal, was man von ihm oder seinem Werk hält, er war nie langweilig und hat es immer geschafft, Leute zum Nachdenken anzuregen und zu Reaktionen zu provozieren. Und dies war immer sein erklärtes Ziel. Mit seinen Filmen und später noch verschärfter mit seinen Theaterstücken und den politischen Aktionen legte er seinen Finger tief in die schwelenden Wunden der Zeit und das Fehlverhalten von Politikern. Vor allem die Nachwendezeit war ein gefundenes Fressen für seine Filme. Man denke da nur an Das deutsche Kettensägenmassaker, in dem Westdeutsche Jagd auf Ostdeutsche machen, um sie zu Wurst zu verarbeiten. Eine wunderbare Allegorie auf die Übernahme des Ostens. Trotz oder vielleicht gerade deswegen, fanden sich auf seinen Besetzungslisten viele bekannte Namen. Anfangs noch neue Leute wie Alfred Edel, mit dem ihm bis zu dessen Tod eine tiefe Freundschaft verband, oder Helge Schneider, der am Anfang seiner Karriere stand. Auch Quereinsteiger wie der damalige Ex-Staatsanwalt Dietrich Kuhlbrot oder komplette Laien spielten mit. Doch bald gesellten sich viele Fassbinder- Stars wie Margit Carstensen, Irm Hermann oder Volker Spengler dazu, bis zu international bekannten Stars wie Tilda Swinton und Udo Kier. Und bei seinen Theaterarbeiten, vor allem in der Berliner Volksbühne standen Schauspieler wie Sophie Rois, Martin Wuttke und Corinna Harfourch mit ihm auf der Bühne. Denn er führte nicht nur Regie, er spielte auch immer mit.
Der Dokumentarfilm von Bettina Böhlich, hauptsächlich als Cutterin bekannt, zeichnet ein faszinierendes Bild von Schlingensiefs gesamten Schaffen über 40 Jahre bis zu seinem frühen Krebstod im Alter von 49 Jahren. Als Schnittmeisterin arbeitete sie bei zwei seiner Filme an der Montage (Terror 2000, Die 120 Tage von Bottrop). Erzählt wird der Film von Schlingensief selbst, da der Film aus (teilweise unveröffentlichtem) Archivmaterial zusammengesetzt ist. Da gibt es seine originalen ersten Super-8-Filme, Filme des Vaters aus der Kindheit und private Aufnahmen aus späteren Jahren, bis zu Talkshowinterviews von Alexander Kluge bis Sabine Christiansen. Vom Vater hatte er auch seine erste Kamera geborgt und eines seiner meistverwendeten Stilmittel abgeguckt: die Doppelbelichtung. Sein Vater hatte eine Kassette versehentlich einmal zu viel umgedreht und so spazierten Leute auf den Badeaufnahmen der Familie herum. Dies faszinierte den jungen Christoph so stark, das er dies in allen seinen Filmen und bei Filmaufnahmen in Theaterstücken immer wieder verwendete. Obwohl bei Filmschulen immer wieder abgelehnt (Wim Wenders mochte seine Art von Film wohl nicht wirklich), begann er nun Filme professioneller und in Kinolänge zu drehen. Nach mässigeren Erfolgen in der Anfangsphase (Tunguska -Die Kisten sind da), lernte er Tilda Swinton kennen, die fasziniert von ihm war und bei Egomania – Insel ohne Hoffnung mitspielte. Nach seiner Deutschland- Trilogie (100 Jahre Adolf Hitler- Die letzte Stunde im Führerbunker, Das deutsche Kettensägenmassaker, Terror 2000), mit denen er richtig bekannt wurde, und in denen er die deutsche Wendezeit kritisiert, folgten (leider) nur noch United Trash und Die 120 Tage von Bottrop.
Danach widmete er sein Schaffen dem Theater und den politischen Aktionen. Seine Theaterstücke inszenierte er im gleichen Stil wie seine Filme. Auch dies ist anhand von Originalaufnahmen erstklassig dokumentiert. Der Film schafft es immer wieder zu zeigen, wie er tickte und wie er es schaffte mit seinen Aktionen die Leute zu provozieren und ihnen einen Spiegel vorzuhalten. Dies auch im wahrsten Sinne des Wortes. Als er in Wien bei seiner Containeraktion Bitte liebt Österreich Leute aufforderte, Asylanten durch einen Schlitz zu beobachten, um sie dann abzuschieben, blickte man auf einen Spiegel und somit auf sich selbst. Auch wenn einige seiner Aktionen hart an der Grenze waren (Tötet Helmut Kohl) schaffte er es immer zum Denken anzuregen.
Als er 2004 für die Bayreuther Richard -Wagner-Festspiele den Parsifal inszenierte war dies eine Bestätigung für ihn, auch in der offiziellen Kunst angekommen zu sein. Denn bei allem kritischen Denken und der Lust zur Provokation, die er ja offiziell nie so genannt haben wollte, wollte er auch Erfolg haben und persönlich gemocht werden. Er liebte seine Eltern, und hoffte durch Bayreuth ihre wirkliche Anerkennung zu finden. Obwohl sie ihn durchaus immer unterstützt hatten. Aber er spürte, dass es keine wirkliche Zufriedenheit gab. In einen Interviewausschnitt zu Bayreuth überlegt er eine Hasenverwesung im Bild nicht in voller Länge zu zeigen, um das Publikum nicht zu verärgern. Trotzdem wurde er nach einem Jahr dort nicht weiterbeschäftigt. 1998 gründete er sogar die Partei der letzten Chance, und versuchte in den Bundestag gewählt zu werden.
Als er 2008 Krebs bekam wurde er zunehmend ruhiger und nachdenklicher, Inszenierte aber trotzdem drei Stücke, die sich mit seiner eigenen Krebserkrankung beschäftigen. Sein letztes begonnenes Projekt, das Operndorf Afrika konnte er nicht mehr selbst vollenden, da er am 21. August 2010 verstarb.
Wenn der Film eines zeigt, dann ist es die Tatsache, wie einzigartig Christoph Schlingensief im deutschen Kulturbetrieb war und das niemand seit seinem Tod diese Lücke schliessen konnte. Was sein Talent beweist, aber trotzdem schade ist.
Von Bettina Böhler; mit Christoph Schlingensief, Margit Carstensen, Irm Hermann, Alfred Edel, Tilda Swinton, Udo Kier, Sophie Rois u.v.a.; Deutschland; 2020; 124 Minuten.
Kinostart in Deutschland: 2.4.2020
Harald Ringel
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