Berlinale 2023 – Bericht aus der Sektion Berlinale Special
In diesem Jahr eröffnete das Festival nicht mit einem Film im Wettbewerb, sondern mit einem Film vom Special. Das Sammelbecken für Filme für ein grösseres, normales Kinopublikum, Dokumentarfilme und in diesem Jahr auch mehrere Genrefilme. She Came To Me von Rebecca Miller (hier die Kritik von Malik Berkati auf Französisch) war ein Opener, den Festivals gerne zur Eröffnung haben. Eine harmlos, nette Geschichte mit mehreren Stars, die auch persönlich anwesend waren und zumindest für das eine oder andere Schmunzeln sorgten. Ein Komponist mit Schreibblockade (Peter Dinklage) muss in einigen Wochen eine neue Oper abliefern. Auch seine Ehe läuft nicht wirklich toll (die Ehefrau wird von Anne Hathaway gespielt). Als er beim Gassigehen mit dem Hund eine Schlepperkapitänin (Marisa Tomei) trifft, die sofort auf ihn steht und mit ihm schläft, wird dies zu seiner neuen Oper. Doch nun wird er seine Muse nicht mehr los. Ein hübscher Film, nicht mehr und nicht weniger.
Der vermessene Mensch von Lars Kraume hat ein Thema, was in Deutschland nur selten eine Rolle spielt. Ein Ethnologe (Leonard Scheicher), der seinem Vater nacheifert und auf eine Stelle an der Universität wartet, für die er seinen Professor (Peter Simonischek) auf seiner Seite haben muss, macht sich mit seinen Theorien über die gleiche Intelligenz bei Schwarzen in den afrikanischen Kolonien unbeliebt. Diesen Eindruck hat er gewonnen, als er bei einer Völkerschau des deutschen Kaisers Ende des 19.Jahrhunderts Gespräche mit Leuten eines afrikanischen Stammes führt, vor allem mit einer Herrero-Frau, die deutsch spricht. Er ist sofort fasziniert von ihr, ja beinahe verliebt. Um die Chance auf seinem Posten zu retten meldet er sich freiwillig zur Militärbegleitung. In der afrikanischen Kolonie ist ein Krieg mit Aufständischen ausgebrochen, bei der die Gruppe aus der Völkerschau zu den Anführern gehört. Ist er am Anfang noch auf der Seite der Rebellen, entwickelt er sich immer mehr zum skrupelosen Menschen, der sogar die heiligen Gräber der Vorfahren schändet. Am Ende, längst Professor geworden, leugnet er sogar seine frühere Untersuchung. Ein starker Film zu einem wieder aktuellen Thema, da auch noch heute Schädel der Ureinwohner in unseren Museen lagern. Der Film startet in Deutschland am 23.3. im Kino. Unbedingt ansehen.
Der stärkste der Genrefilme war Infinity Pool von Brandon Cronenberg. Lese dazu die ausführliche Kritik.
Der chinesische Serienkiller-Film Ming On (Mad Fate) von Soi Cheang, der vor zwei Jahren bereits Limbo im Berlinale- Special hatte, ist ein ungewöhnlicher Genrebeitrag. Ein Frauenmörder geht in Hongkong um. Ein echt verrückter Esoteriker, der Leute von ihrem Schicksal retten will, findet zusammen mit einem Essensboten am Tatort die Leiche einer Prostituierten. Der Killer kann fliehen. Doch die Polizei verdächtigt auch den Essensboten, der schon häufiger mit Grausamkeiten an Katzen und anderen Leuten aufgefallen ist. Der Wunderheiler hat nun ein neues Ziel: dessen Rettung. Doch auch der echte Mörder macht weiter und es kommt zu einem sehr bizarren Showdown. Der Film war gleichzeitig auch eine Hommage für den grossen Hongkong-Regisseur Johnnie To, der dieses Jahr in der Jury sass und den Film produziert hat.
Der australische Horrorfilm Talk to Me von den Brüdern Danny und Michael Phillips widmet sich dem bei Jugendlichen immer beliebter werdenden Thema der Geisterbeschwörung. Durch Handreichung mit einer Hand eines echten Toten in Kunststoff eingepackt kann man mit Toten kommunizieren. Nur durch den Satz ich lass Dich rein. Das geht als Partyspiel mehrfach gut, aber als ein Mädchen mehr als 90 Sekunden verbunden bleibt, beginnt sie überall Geister, dann ihre tote Mutter zu sehen. Als der junge Bruder der Freundin auch spielt, kommt es zur Katastrophe. Der einfach gestrickte, aber spannende Grusler startet später auch in deutschen Kinos.
Love to Love You, Donna Summer von Roger Ross Williams und ihrer Tochter Brooklyn Sudano zeigt die Karriere der berühmten Disco-Queen anhand von Dokumentaraufnahmen, Privatvideos, Konzert- und TV-Show-Ausschnitten und viele Interviews mit Familie, ihrem Ex-Mann, und Berühmtheiten wie Giorgio Moroder, durch den sie zum Star wurde. Sie begann in Deutschland mit Schlagern, bevor sie nach Amerika zurückkehrte und mit dem 20-Minuten-Stöhnsong Love to Love You Baby zum weltbekannten Star wurde. Viele andere Discohits wie Bad Girls folgten. Als es zum Krach mit ihrer Plattenfirma Casablanca wegen eines zu früh veröffentlichten Duetts mit Barbra Streisand kam, wurde es stiller um sie. Sie wurde gläubig und sang dann auch andere Sachen. Auch der Disput mit ihren schwulen Fans, die eine Aussage, die sie anders meinte, als Schwulenhass deuteten, kommt zur Sprache. Genauso wie die Tatsache, dass sie auch als Malerin tätig war, was massig Kunstwerke hervorbrachte. Auch zeigen viele Ausschnitte, dass sie sehr viel Humor hatte. Auch ihr Krebstod wird nicht ausgespart, wo sie bis zum Schluss versuchte normal zu leben und kurz vor ihrem Tod merkte, wie sehr ihr Mann sie liebt.
L’ultima notte di Amore von Andrea di Stefano (hier die Kritik von Firouz E. Pillet, auf Französisch), der bisher immer in Amerika drehte, kehrte nun aber nach Italien zurück. Polizist Franco Amore (Pierfrancesco Favino) hat noch nie auf jemanden geschossen und soll am nächsten Tag in den Ruhestand gehen. Doch während seiner Abschiedsparty wird er an einen Tatort gerufen. Sein Partner wurde auf offener Strasse erschossen, genauso wie mehrere andere Personen. In Rückblicken wird gezeigt, wie es dazu kam und dass Franco darin verwickelt war. Ein spannender und gut gespielter Krimi um einen misslungenen Dienst für die chinesische Mafia. Der Film kommt in Deutschland ins Kino.
Boom! Boom! The World vs. Boris Becker von Top-Dokumentarist Alex Gibney war ein wenig so etwas wie eine Schummelpackung. Im Programm als Film und nicht als Zweiteiler für den Streamingdienst Apple-TV gekennzeichnet, war man etwas frustriert, dass die aktuelleren Geschehen rund um Prozess und Gefängnis der letzten Jahre nur sehr wenig am Anfang mit einem weinerlichen Boris Becker vorkam. Der gezeigte erste Teil zeigt vor allem den Aufstieg in der Jugend bis seinem selbstverschuldeten Abstieg über einige Jahre. Auch eigene Fehlurteile, Probleme mit Trainer und Manager und seine bisher nicht bekannte Schlafmittelabhängigkeit werden thematisiert. Und es gibt viele faszinierende Aufnahmen beim Tennis. Wenn der nicht zusehende 2. Teil genauso gut sein sollte, bleibt Alex Gibney auch mit diesem Film einer der besten Dokumentaristen der letzten Jahre.
Harald Ringel, Berlin
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