j:mag

lifestyle & responsible citizenship

Cinéma / KinoCulture / KulturRecit / Bericht

Filmfest Hamburg 2023 – Ein starkes Programm zum Abschied

Albert Wiederspiel, Leiter des Filmfests seit 21 Jahren, verabschiedete sich nach dem Filmfest in den wohlverdienten Ruhestand. Zum Abschied bot er noch einmal ein erstklassiges Filmprogramm, das er mit seinem bewährten Team zusammenstellte. In allen Sektionen gab es viele Filme der Festivals von Cannes, Venedig, Locarno, Sundance, etc. zu entdecken.

Eröffnet wurde das Festival mit Inshallah a Boy von Amjad Al Rasheed. Nawal lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in einer einfachen Wohnung in Amman. Als ihr Mann stirbt, muss sie sich mit ihrem Schwager um den Verbleib in der Wohnung und ihre Tochter streiten. Der besteht auf den Verkauf ihres Wagens, der Wohnung und will das Sorgerecht für ihre Tochter. In ihrem Job als Pflegerin in einer wohlhabenden Familie lernt sie die Tochter der Familie kennen, die eine verbotene Abtreibung durchführen will. Und Nawal bleibt in ihrer Situation nur ein Mittel übrig: sie muss schwanger mit einem Sohn von ihrem verstorbenen Mann sein. Ein Film, der das patriarchale Rechtssystem Jordaniens anprangert und zeigt welch schlechte Stellung Frauen dort haben. Gleichzeitig ist der Film aber durchaus unterhaltsam und wartet mit einem schon fast märchenhaften Schluss auf.

Deutschlands Star-Regisseur Wim Wenders war gleich mit 4 Filmen im Programm vertreten, die alle zuvor in Cannes gelaufen waren. Anselm – Das Rauschen der Zeit ist das faszinierende Porträt des zeitgenössischen Künstlers Anselm Kiefer. Wenders zeigt die Lebensgeschichte des Künstlers in Dokumentaraufnahmen und Spielszenen, zeigt seine Kunst in Deutschland und führt uns durch sein in Frankreich geschaffenes Riesenreich mit Skulpturen, Installationen und vielen anderen Arten der Kunst. Die faszinierenden Bilder wirken vor allem in der 3D-Fassung. Mit Perfect Days kehrt Wenders nach Japan zurück, wo er bereits zweimal drehte. Hiroyama (Cannes-Darsteller-Gewinner Koji Yakusho) hat den Beruf des Toilettenreinigers in Tokio. Doch seine Erfüllung findet er in Musik und Literatur. Er scheint mit seinem Leben völlig zufrieden. Im Laufe des Films kommt seine Vergangenheit ans Licht, mit der der heutige Mensch aber nichts mehr zu tun hat. Ein typischer Film im poetisch-ruhigen Stil von Wenders, wegen dem ihn viele so lieben. Man spürt seinen Glauben an den Menschen und die Schönheit des Alltäglichen. Der Film ist auf der Shortlist für den Fremdsprachen-Oscar für Japan. Seit Interviewklassiker Room 666, 1982 in Cannes gedreht, in dem diverse Regisseure allein in einem Raum über die Zukunft des Kinos reden, wurde als Doppelprogramm mit Room 999 gezeigt. Die Regisseurin Lubna Playoust tut darin dasselbe wie Wenders in Cannes 2022 und interviewte diverse Regisseure, nur aktualisierter mit Digitalisierung und Streaminghype. Wim Wenders finanzierte den Film durch seine Foundation und ist der erste Interviewte im Film. Die Antworten sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können.

Ein ganzes Leben von Hans Steinbichler
© TOBIS Film

Einer der besten deutschen Filme des Jahres ist Ein ganzes Leben von Hans Steinbichler. Die Verfilmung des Jahrhundertromans von Robert Seethaler erzählt die Geschichte von Andreas Egger. Als Waisenjunge Kommt er zum gerne mit Schlägen strafenden Bauern (Andreas Lust), der wohl ein Onkel von ihm ist. Die einzige gütige Bezugsperson ist dessen Mutter (Marianne Sägebrecht) bis zu ihrem Tode. Aus eigennützigen Gründen vom Bauern zunächst vor dem Kriegsdienst gerettet, wird er sobald er kann Arbeiter beim Bau der ersten Seilbahnen. Damit scheint er einen idealen Beruf gefunden zu haben. Er pachtet eine Hütte vom Wirt (Robert Stadlober) und heiratet Marie. Doch als eine Lawine sein Glück zerstört, ist sein Leben bis zu seinem Tod einsam. Ein Film, den man schon wegen seiner erstklassigen Bilder und Bergpanoramen unbedingt im Kino sehen sollte, glänzt ausserdem mit seinen guten Schauspielern, allem voran den drei Hauptdarstellen des Andreas in den verschiedenen Lebensphasen: Ivan Gustafik, Stefan Gorski und August Zirner.

In Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag von Katharina Lüdin geht es um die Beziehung zwischen Merit (Anna Bolk) und ihrer Lebensgefährtin Eva (Jenny Schily). Es kriselt seit langem und es geht auch um häusliche Gewalt, was man bei lesbischen Beziehungen nicht so oft im Film sieht. Der Film ist sehr ruhig inszeniert und erfreut sich auch minutenlang an häuslichen Arbeiten und vermeidet es Gewaltakte direkt zu zeigen. Die Frage, ob es wichtiger ist sich bedingungslos zu lieben oder eigene Freiräume zu haben, steht immer im Raum. Eine ruhige Filmperle.

Die Theorie von Allem von Timm Kröger war der seltene Fall eines deutschen Films im Wettbewerb von Venedig. Weitgehend in Schwarz/Weiss gedreht ist dieses eine Mischung aus Film Noir, Science Fiction und Thriller. Johannes Leinert (Jan Bülow) ist angehender Physiker und hat eine Theorie von Allem erarbeitet. Diese stösst bei seinem Doktorvater (Hans Zischler) auf Ablehnung. Trotzdem fahren beide zu einem Kongress, wo ein iranischer Wissenschaftler eine solche Theorie vortragen will. Doch der kommt nicht, und so bleibt man im Hotel. Ein Feind des Doktorvaters, findet Johannes Theorie gut und wird plötzlich ermordet. Eine Pianistin, die ihm bekannt vorkommt und Dinge weiss, die sie eigentlich nicht wissen kann, verschwindet. Johannes wird vom Kommissar (David Bennent) verdächtigt. Aber alles wird immer merkwürdiger. Er sieht den Toten plötzlich wieder und was sind das für komische Geräusche im Berg? Ein spannender Film, bei dem man viel mitdenken muss, allerdings ein wenig zu lang. Auf alle Fälle mal ein anderer deutscher Film.

Wonderland von Sabine Howe zeigt nicht nur in Cinemascope gefilmte Aufnahmen des Hamburger Miniatur Wunderland, es zeigt auch die Geschichte der Brüder Frederik und Gerrit Braun von der Kindheit bis heute. So sieht man wie es zu dem faszinierenden, mit massenhaft Details versehenen Miniatur-Tableaus gekommen ist, wie sie funktionieren und wie die Erfinder ticken. Und dass alle ihre Mitstreiter und Angestellten wichtig für sie sind. Gezeigt wird dies unter anderem durch Animationen, in denen die beiden Brüder als Miniaturfiguren durch die einzelnen Ausstellungsteile laufen. Ein guter Teil des Films zeigt, wie sie mit argentinischen Modellbauern zusammen fanden, und mit diesen neuen lateinamerikanischen Teilen wie Rio in Brasilien bauen. Eine faszinierende Dokumentation, die Lust auf einen Besuch macht.

Irdische Verse (Terrestrial Verses) von Ali Asgari und Alireza Khatami zeigt in 9 Episoden den alltäglichen Wahnsinn im Iran. Bürokratie und Gängelung über alles. Egal ob beim Kindesnamen eintragen auf dem Standesamt, bei Hundeentführungen durch die Polizei oder absurden Interviews beim Vorstellungsgespräch ist alles völlig unlogisch durch politische/religiöse Vorgaben gesteuert. Und auch ein Jobinterview, in den sexuellen Gegenleistungen gefordert werden, werden gezeigt. Zu sehen sind dabei fast immer nur die Gebeutelten. Die Amtspersonen/Chefs werden erst zum Abspann gezeigt. Sehr böse, sehr entlarvend, sehr unterhaltsam. Das gezeigte erinnert ein wenig an die filmischen Tableaus von Roy Andersson.

Der Gewinner des Friedrich Ebert Preises für den besten politischen Film ging an Im Rückspiegel des polnischen Regisseurs Maciek Hamela. Begonnen hat alles mit dem persönlichen Hilfseinsatz des Regisseurs beim Transport von Flüchtlingen in andere Teile der Ukraine und später auch ins Ausland. Dabei kam er auf die Idee, Gespräche der Passagiere zu filmen. Dies ist hochinteressant und macht die furchtbaren Auswirkungen des Krieges auf die Menschen in der Ukraine fühlbar. Verstärkt wird dies durch Bilder, die der Regisseur aus dem Fenster von Umgebung, Ruinen und Checkpoints gemacht hat. Der Film gewinnt momentan Preise für den besten DokumentarfIlm weltweit und das zu Recht.

Im Rückspiegel von Maciek Hamela
Foto mit freundlicher Genehmigung Filmfest Hamburg

Der Hauptgewinner von Venedig Poor Things von Yorgos Lanthimos nähert sich der Frankenstein-Geschichte in sehr spezieller Weise. Dr. Baxter (Willem Dafoe) erweckt das Selbstmordopfer Bella ( Emma Stone) wieder zum Leben, nachdem er ihr das Gehirn ihres toten ungeborenen Kindes eingepflanzt hat. Zunächst wächst sie normal auf und befolgt den Weisungen ihres Vaters. Als sie in die Pubertät kommt, entdeckt sie die Sexualität und verlässt ihn mit einem Verführer (Mark Ruffalo). Doch die Beziehung reicht ihr bald nicht mehr aus und sie will selbst bestimmen was sie tut. Emma Stone spielt die Rolle erstklassig und mit vollem Körpereinsatz. Mit dieser feministischen Variante hat sich der Regisseur wieder selbst übertroffen.

Der neue Film von Regisseur Richard Linklater Hit Man macht einfach nur Spass. Basierend auf einem echten Fall erzählt er die Geschichte von Gary Johnson (Co-Autor Glen Powell). Der ist eigentlich Professor, wird aber von der Polizei zum vermeintlichen Auftragskiller gemacht. Er antwortet  Auftragsinteressenten und hilft mit Abhörwanzen  bei der Verhaftung. Bis er eines Tages auf Madison (Adria Arjona) trifft. Der rät er, sich einfach scheiden zu lassen. Doch daraus entsteht nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern auch ein echter Kriminalfall. Eine gute Mischung aus Krimi und Komödie.

In The Rapture (Le Ravissement) von Iris Kaltenbäck spielt die immer gute Hafsia Herzi eine Hebamme, die durch die Trennung von ihrem Freund und die Tatsache, dass ihre beste Freundin schwanger ist, völlig aus der Bahn geworfen wird. Nach einem One-night-stand macht sie ihm vor, dass sie schwanger von ihm ist. Dies führt schliesslich zu einer Kindesentführung. Ein stark gespieltes Drama.

Un Amor, der neue Film von Isabel Coixet, erzählt von Nat (Laia Costa). Sie flieht vor ihrem Leben als Dolmetscherin für afrikanische Flüchtlinge, was sie psychisch fertig macht, aufs Land. Doch das gemietete Haus ist eine Bruchbude, sie hat kein Geld und lässt sich schliesslich auf einen Tausch Sex gegen Reparaturarbeiten ein. Doch sie verliebt sich in den Mann, der aber eigentlich nur gelegentlichen Sex will. Ihr einziger wirklicher Freund ist ein Hund, der vom Vorbesitzer misshandelt wurde. Eine weitere starke Rolle für Laia Costa um Einsamkeit und Fremdenhass.

Goodbye Julia ist einer der seltenen Filme aus dem Sudan. Regisseur Mohamed Kordofani erzählt von einem gespaltenen und rassistisch geprägten Land, bevor es zur Abspaltung von Südsudan kam. Eine ehemalige Sängerin fährt ein Kind an und flieht. Der Vater verfolgt sie und wird vom rassistischen Mann erschossen. Doch die Sängerin plagen Schuldgefühle und sie engagiert die Mutter als Hausmädchen und nimmt sie und ihren Sohn auf. Doch das kann auf Dauer nicht gut gehen. Klasse.

Das Kinderfilmfest Michel gewann Mein Totemtier & ich des Holländers Sander Burger. Ama, 11-jährige Tochter eines illegal in den Niederlanden wohnenden Ehepaars aus dem Senegal, kann sich gerade noch verstecken, als die Polizei die Mutter und ihre kleine Schwester verhaftet. Sie beginnt ihren Vater zu suchen und beide werden von der Polizei gesucht. Thijs, Freund von Ama versucht ihr zu helfen und dann taucht auch noch ein riesiges (eingebildetes) Stachelschwein auf. Sympathisches Kinderkino mit dem Plädoyer auf besseren Umgang mit Geflüchteten.

Linda will Hühnchen! (Linda veut du poulet !) von Sebastian Laudenbach und Chiara Malta
Foto mit freundlicher Genehmigung Filmfest Hamburg

Mein Lieblingskinderfilm war der französische Animationsfilm Linda will Hühnchen! (Linda veut du poulet !) von Sebastian Laudenbach und Chiara Malta. Linda wird fälschlich verdächtigt, einen Ring von Mama weggenommen zu haben. Ihr Wunsch zur Wiedergutmachung: Hühnchen mit Paprika, wie es der Papa immer gekocht hat. Nur die Geschäfte haben zu und es ist nicht so einfach ein Hühnchen zu bekommen. Was folgt, sind bonbonbunte Verfolgungsjagden mit Linda, Mama, Hühnchen und der Polizei. Ein Trickfilm mit besonderen Zeichnungen, der nicht nur für die Kleinen ist, sondern auch Erwachsenen viel Spass macht.

Aber auch noch viele weitere, hier nicht gross erwähnte Filme waren richtig gut: Priscilla (Geschichte von Elvis Presleys Frau von Sofia Coppola), Evil Does Not Exist (der neue Film von Ryusuke Hamaguchi), der Cannes-Gewinner Anatomie eines Falls (Anatomie d’une chute) von Justine Triet mit Sandra Hüller, die für ihre Rolle den Douglas-Sirk-Preis gewann, die Franzosen Àma Gloria von Marie Amachoukeli und Along Came Love (Le Temps d’aimer) von Katell Quillevere mit Anais Demoustier, das spanische Meisterwerk Close Your Eyes von Victor Erice, How to Have Sex von Molly Manning Walker, der in Cannes den Certain Regard Preis gewann, den neuen Film Kings Land mit Mads Mikkelsen (der als Gast auf dem Festival war) von Nikolaj Arcel und der neue Ken Loach The Old Oak.

Abgerundet wurde das Festival von der TV-Sektion und den Gastfilmen vom ukrainischen Molodist Film Festival. Nach diesem rundum gelungenen Festivalprogramm bleibt zu hoffen, dass es im nächsten Jahr unter der neuen Leitung von Malika Rabahallah genauso weiter geht.

Harald Ringel, Hamburg

j:mag Tous droits réservés

 

Harald Ringel

Rédacteur / Reporter (basé/based Berlin)

Harald Ringel has 45 posts and counting. See all posts by Harald Ringel

Laisser un commentaire

Votre adresse e-mail ne sera pas publiée. Les champs obligatoires sont indiqués avec *

*