Von Mitteleuropa bis Ostasien: das Programm des 27. FilmFestival Cottbus (7-12.11.2017)
Zwölf Filme aus insgesamt 16 Koproduktionsländern – der Wettbewerb Spielfilm des FilmFestival Cottbus steht auch in diesem Jahr in den besten Traditionen des osteuropäischen Kinos: Vielfalt zeigen und sich nicht auf einen roten Faden reduzieren lassen. Das FFC-Publikum erhält mit den Filmen die Möglichkeit, Menschen genau zu beobachten und zu entschlüsseln: zwischen Thriller und Sozialdrama, lakonischer Fallstudie und epischem Kino.
Die Wettbewerbsbeiträge sind inszeniert von Altmeistern wie dem FilmFestival Cottbus-Stammgast Jan Cvitkovič mit Die Familie bis zu Newcomern wie dem jungen russischen Independent-Regisseur Vitaly Suslin mit Ein Kopf. Zwie Ohren. Im Vordergrund stehen Protagonisten, die sich – ganz lebensnah – in Widersprüche verstricken. So wie der Ex-Präsident, der in George Ovashvilis Vor dem Frühling vor seinem Volk fliehen muss, obwohl er doch nur das Beste wollte. Oder der Sensationsjournalist in Breaking News, der vor der Verantwortung für den Tod seines Mitarbeiters wegrennt. Sie alle sind gebrochene Helden, deren Schicksale exemplarisch aus dem Hinterland der üblichen medialen Aufmerksamkeit erzählen. Black Level begleitet einen Fotografen in der Midlife-Crisis, der nicht älter werden möchte, Wilde Rosen die junge Mutter in der Provinz, die mit ihrem Ehemann genauso fremdelt wie mit den eigenen Kindern. Out als Roadmovie mit schrägem Humor ist die Reise ins Ungewisse für einen Arbeitslosen, der auch auf Montage im hohen Norden nicht glücklich wird. Gestrandet in der Konkurrenzgesellschaft, entwickelt ein Werbedesigner in Omnipräsent den Kontrollzwang, seine Umwelt mit Überwachungskameras beherrschen zu wollen.
Programmdirektor Bernd Buder:
„Die Helden des osteuropäischen Films sind nie gut oder schlecht gewesen, sie waren immer beides gleichzeitig. Menschen unter Handlungsdruck, in der moralischen Zwickmühle zwischen Überlebenstrieb und Selbstkritik, Karriere und Solidarität. Charaktere, die oft mit einem Hang zur Ironie gezeichnet werden. Hier steht hinter jeder Wahrheit die Lüge, und umgekehrt.“
Einen Menschenhändler mit Herz zeigt Die Linie, einen Polizisten als Henker I’m a Killer und Tagesanbruch eine Alleinerziehende als Mörderin. Im Familiendrama Der Granatapfelgarten hintergeht ein Sohn seine Familie.
Mitglieder der Internationalen Festivaljury sind:
Danilo Bećković, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent aus Serbien. Sein Martial-Arts-Film Samurai im Herbst gehörte 2017 zu den erfolgreichsten serbischen Filmen im einheimischen Kino und läuft in der Sektion Nationale Hits des 27. FFC.
Yevgeny Gindilis, russischer Produzent, Mitbegründer des Moskauer Kinopoisk Filmmarktes und zudem Mitglied der Europäischen Filmakademie und des russischen nationalen Oscar-Komitees.
Prof. Dr. phil. Ursula von Keitz, deutsche Professorin für „Filmforschung und Filmbildung im Museum“ an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf sowie Direktorin des Filmmuseums Potsdam.
Marcin Pieńkowski aus Polen, seit 2016 künstlerischer Leiter des T-Mobile New Horizons International Film Festival sowie Lehrbeauftragter, Filmhistoriker, Redakteur und Autor mehrerer Publikationen über das Medium Film.
Elīna Vaska, lettische Schauspielerin, war Berlinale-Shooting Star 2017. Für ihre Hauptrolle in Renārs Vimbas Mellow Mud erhielt sie den Silver Peacock für die Beste Schauspielerin auf dem International Film Festival of India in Goa. Das FFC zeigt den Film in diesem Jahr in der Sektion Specials.
Im Wettbewerb Kurzspielfilm konkurrieren zehn Beiträge aus neun Koproduktionsländern.
Es gibt wie jedes Jahr Die lange Nacht der kurzen Filme am Freitag (10.11).
Der Russkiy Den und das Special „Belarus“
In der Länder-Specials-Reihe „Belarus“ gibt das FFC Einblick in die gegenwärtige Filmlandschaft von Belarus, wo seit kurzem eine vitale unabhängige Filmszene neben den staatlichen Belarus-Filmstudios für bemerkenswerte filmische Vielfalt sorgt. Das unabhängige Belarus ist mit Russland in einer staatlichen Föderation zusammengeschlossen.
Mit seinem Russkiy Den (Russischer Tag) lädt das FFC traditionell zur intensiven Erkundung von Russlands Filmszene ein und ermöglicht so eine interessante Draufsicht auf die Nachbarn. Beide Programme zeigen, wie sich Filmemacher an den zivilgesellschaftlichen Diskursen in ihren Ländern beteiligen und ihre jeweiligen nationalen Narrative abseits des politischen Drucks um aussergewöhnliche Sichtweisen bereichern.
Marcel Maïga, Kurator der Specials-Reihe „Belarus“
„Das in Deutschland weitestgehend unbekannte Filmland Belarus hat eine lange Tradition, die bis in die Sowjetunion zurückgeht und nach deren Zerfall in Belarus fortgesetzt wurde. Die Reihe beinhaltet Filme von unabhängigen jungen Regisseuren sowie vom staatlichen Studio Belarusfilm. Das Ergebnis ist ein facettenreiches Programm aus 36 Filmen, die von klassischen Liebesgeschichten über Komödien und Satiren, bis hin zu bitterernsten, reportageartigen Dokumentarfilmen mit hohem informativen Gehalt reichen.
Das Festival widmet sich in der Sektion Focus Việt Nam ở châu Âu | Vietnam in Europa der Migrationsgeschichte vietnamesischer Vertragsarbeiter und deren Folgegenerationen in Mitteleuropa
Programmdirektor Bernd Buder:
„Die Geschichte der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter und ihrer Kinder und Enkel in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik spiegelt mehrere Ambivalenzen europäischer Migrationsgeschichte wieder: Sie wurden als Arbeitskräfte geholt, sind als Menschen geblieben, von der Abschiebung bedroht und mit Rassismus konfrontiert worden. Die unterschiedlichen Filme des Programms werfen pointierte, oft ironische Schlaglichter auf Aspekte der Migrationsgeschichte und erkunden unterschiedliche vietnamesisch-europäische Identitäten.“
15 Filme aus Vietnam, Polen, der Tschechischen Republik, Deutschland und der ehemaligen DDR ermitteln persönlich und akzentuiert die Seelenzustände zwischen fremdenfeindlichen Ressentiments und Aufstiegschancen, patriarchaler Familientradition und Selbstbefreiung, der Angst vor Abschiebung und mühsam errungener gesellschaftlicher Anerkennung. Die Beiträge sind essayistisch und dokumentarisch, berührend und analytisch, ironisch und mit Genre-Appeal: Eine zeithistorisch spannende Hommage und ein Dokument über die Ideale unmittelbarer Nachkriegszeiten ist der Kurzfilm My Experiences/Meine Erlebnisse (DDR, 1962).
Die einzige Koproduktion zwischen der DDR und Vietnam ist ebenso Teil des Programms: Time in The Jungle/Dschungelzeit entstand 1988 als erster ausländischer Spielfilm, der komplett in Vietnam gedreht wurde. Regisseur Jörg Foth ist zu Gast beim 27. FFC und wird über seine Erfahrungen bei diesem Dreh berichten.
Von den Bewohnern eines schwimmenden Dorfes in Vietnam berichtet der an der Filmuniversität Babelsberg ausgebildete Regisseur Duc Ngo Ngoc in dem Dokumentarfilm Farewell Halong.
Die schwindende Verbindung der jüngeren Generation zu den Wurzeln der Eltern sowie das Leben zwischen zwei Heimaten reflektieren zwei vietnamesisch-stämmige Regiestudenten der Prager FAMU mit dem Kurz- beziehungsweise Animationsfilm Mat Goc und The Little One/Die Kleine.
Die polnischen Beiträge My Flesh, My Blood/Mein Fleisch und Blut und Pinky/Der kleine Finger bringen alltäglichen Rassismus und damit verbundene Abhängigkeitsverhältnisse eindringlich und mit unerwarteten Wendungen auf den Punkt.
Im FestvialZentrum, der Stadthalle Cottbus, ermöglicht darüber hinaus die Wanderausstellung Als Arbeitskraft willkommen – vietnamesische Vertragsarbeiter in der DDR allen Besuchern, sich ein Bild dieses bis heute weitgehend unbekannten Kapitels jüngerer Geschichte zu machen. Der Eintritt zur Ausstellung ist frei.
U18: Liebe in Zeiten des Internets
Mit seinem U18 Wettbewerb Jugendfilm beleuchtet das FFC die Lebenswelten junger Menschen in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik mit neun langen und mittellangen Filme. Vergeben wird dieser Preis auch in diesem Jahr von einer trinationalen Jury, die sich aus Schülerinnen und Schülern des 5. Lizeums Zielona Góra, des Gymnazium Teplice sowie erstmals des Cottbuser Humboldt-Gymnasiums zusammensetzt.
U18-Kurator Jarek Godlewski:
„Der diesjährige U18 Wettbewerb Jugendfilm begeistert mit enormer Vielfalt. Er packt große Themen wie Familie, Selbstbestimmung, digitale Welten und natürlich das prickelnde Abenteuer der Liebe an. Die Werke erzählen temporeich, unterhaltsam, künstlerisch und bisweilen mit einem gewissen Nervenkitzel – ein spannendes Programm für Teenager und auch junge Erwachsene.“
Das Festival bietet dazu das Neueste aus der osteuropäischen Kinderfilmwelt. Höhepunkt für die Cineasten von morgen ist die Welturaufführung der aktuellen Märchenverfilmung des Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) Der Schweinehirt am Festival-Familiensonntag. Im Anschluss begrüssen das FFC und die Freie Waldorfschule Cottbus alle Kinder zu Spiel und Spass beim Kinderfest.
Eröffnung des Festivals am 7. November, 19 Uhr, im Großen Haus des Staatstheater Cottbus mit dem zehnten Spreewaldkrimi Zwischen Tod und Leben/Between Death and Life in Anwesenheit dessen Hauptdarsteller Christian Redl und Thorsten Merten.
Malik Berkati
Vom 7. bis zum 12. November 2017: www.filmfestivalcottbus.de
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