Berlinale 2018 – Minatomachi (Inland Sea) in Forum und The Silk and the Flame in Panorama
Zwei Dörfer, zwei alternde Gesellschaften, viele Schicksale
Die beiden in unterschiedlichen Sektionen der Berlinale gezeigten Filme ergäben ein reizvolles Double Feature. Beide zeigen uns abgeschiedene kleinste Ortschaften, in Japan der eine, in China der andere. Beide befassen sich eingehend mit den Themen des Alterns und dessen tiefgreifenden Folgen. Beide erzielen ihre Wirkung mit angenehm zurückhaltenden Mitteln, beide verlassen sich auf die Bildkraft des Schwarz-Weiss.
Minatomachi (Inland Sea) entführt uns nach Ushimado, einem japanischen Fischerdorf mit einer alarmierenden Zahl leerer Häuser, der Ort stirbt sprichwörtlich aus. Kazuhiro Soda lässt die betagten verbliebenen Menschen für sich selbst sprechen, oft tun sie es am eindringlichsten, wenn sie schweigen. Soda ist eine One Man Show, Regisseur, Kameramann, Produzent und Editor. Seine selbst auferlegten “zehn Gebote” lassen dänische Dogma Filme als ausgesprochen entspannte Veranstaltung erscheinen: kein Skript, keine Absprachen mit gefilmten Personen, kein Kommentar, keine Musik. Nach einer ursprünglichen Inspiration als Ausgangspunkt lässt er den Zufall diktieren, was der Film zeigt. In Inland Sea entsteht so ein ebenso kontemplatives wie bedrückendes Bild von verlassenen Menschen am Ende ihres Lebens. Der 86jährige Fischer, der noch immer alleine sein Boot handhabt, wider bessere Einsicht. Die 84jährige Frau, die fest daran glaubt, ihr behinderter Sohn sei ihr von einer Wohlfahrtseinrichtung gestohlen worden, damit diese die staatlichen Hilfsmittel für ihn einkassieren kann. Die noch vergleichsweise vital wirkende Fischhändlerin, die auch Anlaufstelle für die vielen streunenden Katzen ist, die heimlichen Stars dieses Films.
Auf zwei Stunden “beobachtendes Filmen” muss man sich einlassen. Eine sehr entschleunigende Erfahrung, die ihrem Thema mehr als gerecht wird.
The Silk and the Flame könnte ohne weiteres Drama sein, so extrem ist die Familiengeschichte, die der amerikanische Dokumentar Filmer Jordan Schiele uns aus China zeigt. Yao ist der Sohn der Familie, um die es geht. Und Yao ist schwul. Der grösste anzunehmende Unfall für eine von alten dörflichen Traditionen geprägte Gesellschaft, zumal Yaos Vater nichts so sehr wünscht wie Familiennachwuchs und Fortbestand der eigenen Sippe.
Das Leitmotiv des Films ist Sprachlosigkeit. Yao schafft es, eine atemberaubende Karriere zu machen und so erfolgreich zu sein, dass er seine Eltern und die umfängliche Familie behausen, ernähren und versorgen kann. Aber er kann nicht zu dem stehen, was er ist, obwohl selbstverständlich seinen Leuten längst dämmert, wohin seine Sehnsüchte gehen. Er bringt sogar Freundinnen nach Hause mit, denen es durchaus widerfahren kann, dass sie für nicht hübsch genug befunden werden. Streng sind sie, die Bräuche in dem abgelegenen Dorf. Ein unverheiratet gebliebener Sohn darf im Falle des Todes eines Elternteils vier Jahre lang nicht heiraten und seine eigene Familie gründen, eine Folge, die der störrische Vater für Yao unbedingt abwenden will.
Er, der Vater, nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, spricht nicht mehr, weil er sich von seinem Gott verraten und verlassen fühlt. Die stärkste Metapher jedoch wird durch Yaos Mutter bewirkt, die ihre Sprache in jungen Jahren durch eine verpfuschte medizinische Behandlung verlor, seit der sie taubstumm ist. In Ermangelung der üblichen Zeichensprache hat die Familie ihre ganz eigene erfunden, die ihnen untereinander die Verständigung erlaubt, alle anderen, uneingeweihten, jedoch ausschließt.
Einen Ausweg zeigt uns Jordan Schiele nicht. Aber er hinterlässt seine Zuschauer beeindruckt, und vielleicht mit einem beherzigenswerten Vorsatz, eigene Sprachlosigkeit zu überwinden.
Minatomachi (Inland Sea) von Kazuhiro Soda; Japan, USA; 2018; 122 Minuten
The Silk and the Flame von Jordan Schiele; USA; 2018; 87 Minuten.
Frank B. Halfar
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