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Berlinale 2019 – Forum : Fortschritt im Tal der Ahnungslosen von Florian Kunert, ein sehr intelligenter dokumentarischer Essay über das geografische und zeitliche Exil – Interview

30 Jahre nach Mauerfall wird in dem ehemaligen volkseigenen Betrieb „Fortschritt“ das Erbe der Deutschen Demokratischen Republik neu verhandelt. Wo früher Mähdrescher hergestellt wurden hausen jetzt Asylbewerber, die sich mit wöchentlichen, rassistischen Demonstrationen in Ostdeutschland konfrontiert sehen. Von ehemaligen Werksarbeitern von „Fortschritt“ bekommen syrische Asylbewerber Hilfe bei ihrem Deutsch-Orientierungskurs. Was mit einer humorvoll inszenierten Deutschklasse in der „Fortschritt“-Ruine beginnt, endet mit Schulstunden von Staatsbürgerkunde und einem GST-Militärlager.

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen von Florian Kunert
© tsb / Joanna Piechotta

Florian Kunert gelingt es, diese doppelte Begegnung auf eine leichte Weise zu inszenieren, ohne die Schwerkraft und Tiefe des zugrunde liegenden Subjekts jemals zu verändern. Das Bemerkenswerte an diesem dokumentarischen Essay ist, dass das Treffen tatsächlich stattfindet: Menschen aus anderen Ländern werden nicht aufgefordert, ihre Umgebung zu verstehen und sich wie durch ein Wunder in ihre Umgebung einzufügen, hier werden die Dinge erklärt und gezeigt. Das Überraschendste: das Einfühlungsvermögen dieser jungen Syrer gegenüber den älteren Ex-Bürgern Ostdeutschlands, unter denen viel Nostalgie steckt. Und die Sehnsucht nach diesen geografischen und zeitlichen Exilanten ist das, was sie ohne Worte teilen können.
Florian Kunert hat sich freundlicherweise bereit erklärt, unsere Fragen zu beantworten.

— Florian Kunert Regisseur von Fortschritt im Tal der Ahnungslosen
© Florian Kunert

Die Kollision und Parallelen zwischen der ehemaligen Welt der DDR und der Gegenwart und dem Leben der syrischen Flüchtlinge heute werden im Film mit Leichtigkeit und Humor bewältigt, trotz der Tragödie, die ostentativ dahinter steckt. Warum ist es hier wichtig, nicht an der dramatischen Triebfeder zu spielen?

Diese Zusammentreffen waren in den Dreharbeiten natürlich nicht immer so leicht und humorvoll wie im Film erzählt, aber wenn es im Film möglich ist, warum dann nicht auch ausserhalb eines Film-Sets? Ein Projekt wie dieses, das über vier Jahre entstanden ist, bietet genügend Zeit, um ein Vertrauensverhältnis mit den Darstellern aufzubauen und sich zusammen auf diese Erfahrung vorzubereiten. Diese Zeit ist nötig, um sich verantwortungsbewusst solchen ernsten Themen zu nähern. Dieselbe Zeit wurde auch im Schnitt benötigt, um eine Balance zu schaffen, die dafür sorgt, dass eine „Tragödie“ so dicht auf humorvollen Szenen montiert werden kann.

Auch wenn wir den Eindruck haben, dass sich hier zwei Welten treffen, stellt sich heraus, dass diese Welten nicht so weit entfernt waren, da Syrien von Hafez el-Assad gehörte zu den sozialistischen Staatswesen und dass ostdeutsche „Entwicklungshelfer“, wie in vielen anderen arabischen Ländern, aktiv waren. Wie kommt es, dass diese Geschichte, deiner Meinung nach, auf deutscher Seite vergessen wurde, bzw. dass ehemalige Mitarbeiter, wie wir einen im Film sehen, nicht als Bindeglied und Vermittler dienen konnten?

Die Geschichte der Leute, die für Fortschritt im Ausland tätig waren, bekommt im Kontext des Films eine neue Relevanz. Vor der Ankunft der syrischen Geflüchteten 2014 und der emotionalen Reaktion darauf vor allem im Osten Deutschlands, hätte das Archivmaterial nicht diese Bedeutung besessen. Filmmaterial, das Hafez al-Assad Seite an Seite mit Erich Honecker zeigt, wie sie durch die Strassen der DDR fahren und tausende DDR-Bürger syrisch-arabische Fahnen winken, bekommt aus heutiger Sicht eine neue Bedeutungsebene. Das ist das Spannende bei der Arbeit mit Archivmaterial.

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen von Florian Kunert
© tsb / Joanna Piechotta

Auf der Seite der jungen Syrer gibt es auch viel Überraschung, diese für sie unwahrscheinliche Verbindung zwischen dieser verlassenen Fabrik – die sie auch an die Ruinen ihrer Städte erinnert – und ihrem Land zu entdecken. Welche Gefühle weckt das bei ihnen?

Als ich zum ersten Mal die syrischen Asylbewerber in den ehemaligen Arbeiterwohnheimen von Fortschritt besuchte, gingen wir im ehemaligen Werksgelände spazieren. Sie fragten mich über das ruinöse Gebäude, dass vor ihren Fenstern steht und mutmassten, ob es wohl möglich vom Krieg zerstört wurde. In Wahrheit ist es seit 25 Jahren verfallen und ortsansässige Jugendliche haben die Räume randaliert. In dieser unterschiedlichen Sichtweise auf die Gegenwart sah ich eine erzählerische Chance für den Film, die ich dann konsequent angewendet habe. Gleichzeitig ging ich während des Drehs so behutsam wie möglich vor, dass die Re-enactments des Wehrlagers und der Kriegsszene in der Fortschrittruine sich nicht möglicherweise re-traumatisierend auf die syrischen Darsteller auswirken. Deshalb hatten wir uns langsam und spielerisch an diese Themen herangetastet und genauso langsam auch wieder von ihnen entfernt.

Die jungen Syrer machen eine interessante Bemerkung: Sie sagen, dass die Ostdeutschen ein elendes Leben hatten, weil sie die ganze Zeit beobachtet wurden, dass er nur arbeiten und essen konnte und keine Freiheit hatte. Dies spiegelt den ursprünglichen Aufstand der demokratischen Kräfte in Syrien wider. Warum erscheint es so schwierig, denjenigen, die sich der Aufnahme von Flüchtlingen widersetzen, das gleiche Gefühl der Freiheit um jeden Preis zu vermitteln?

Für mich liegt es in der einzigartigen Form in der die Revolution von 1989 stattgefunden hat, vor allem im ehemaligen Bezirk Dresden, wo die Mehrheit der Bevölkerung nicht für ein Ende der DDR auf den Straßen demonstriert hatte. Ich bin mit Leuten aufgewachsen, die den Mauerfall im Fernsehen gesehen haben und dann mit dem Trabant nach Berlin gefahren sind, um sich 100 € Begrüßungsgeld zu holen. Das heisst die passive Teilnahme an der friedlichen Revolution resultierte nicht zwangsläufig in einer inneren Verarbeitung oder einem Verständnis, in welcher Form man vielleicht ganz konkret vom DDR-Regime beeinflusst wurde. Trotzdem glaube ich, dass das persönliche Identitätsgefühl durch den Verlust der nationalen Zugehörigkeit tief erschüttert wurde.

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen von Florian Kunert
© tsb / Joanna Piechotta

Es gibt keine jungen Deutschen auf dem Bildschirm, zumindest ist es mein Eindruck: warum dieser narrative Wille? Als ob junge Ostdeutsche nicht Teil der Landschaft wären, ausser bei fremdenfeindlichen Demonstrationen.

Wenn man durch ostdeutsche Kleinstädte spaziert, trifft man häufiger auf ältere Menschen als auf Jüngere. Viele sind in die Grossstädte gezogen, vor allem in den Westen. Dazu gehöre ich ja auch. Das hilft sicher nicht dabei alte Verhaltens- und Denkmuster herauszufordern und neu zu knüpfen.

Wie hast du die Protagonisten ausgewählt?

In Neustadt in Sachsen hat zu DDR-Zeiten eine gefühlte Hälfte der Einwohner bei Fortschritt gearbeitet. Zudem ist jeder noch mit Namen und Adresse im örtlichen Telefonbuch zu finden. So konnte ich mich durchfragen zu den Fortschrittwerkern, die in Syrien im Einsatz waren oder GST-Lagerleiter waren. Eine der Lehrerinnen ist meine Mutter. Ihre Kollegin im Film ist ihre Freundin, die meine Nachbarin in dem Haus wo ich aufwuchs. Die Deutschlehrer sind ehemalige Fortschrittwerker, die den Asylbewerbern aus Neustadt selbstorganisiert und ehrenamtlich deutsch beibringen. Durch sie bin ich auch in Kontakt mit den syrischen Darstellern gekommen.

Wo sind die jungen Syrer nun?

Alle syrischen Darsteller im Film wohnen heute in Westdeutschland. In Bonn, Aachen, Oberhausen, Frankfurt und einer in Potsdam. Keiner von ihnen ist in Sachsen geblieben.

Der Film ist als Dokumentarfilm kategorisiert. Es ist jedoch, wie alle Dokumentationen, extrem skriptartig, aber an der Grenze der fiktiven Inszenierung. Sind die Filmgenre-Codes für dich im zeitgenössischen Kino noch gültig?

In die DDR-Re-enactments in den Fortschrittruinen oder beim Besuch im DDR-Museum habe ich fiktionale Rahmenbedingungen geschaffen innerhalb deren sich die Darsteller frei bewegen konnten. Wie darauf reagiert wurde, haben wir dann dokumentarisch beobachtet, das heisst kein Text ist geskriptet, alles Gesagte speist sich aus der Erfahrung oder Erinnerung des jeweiligen Darstellers. Ob dokumentarisch oder fiktional, am Ende entscheidet der Zuschauer, ob er das Gesehene für authentisch hält und das Dargebotene akzeptiert. Ich persönlich unterscheide nicht in diese Kategorien in meiner Filmauswahl, für mich zählt vor allem, ob ein Film mich berührt hat oder nicht.

Von Florian Kunert; Deutschland; 2019; 67 minutes.

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Malik Berkati

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