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Interview mit Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, über digitale Museumsstrategien, die Wiedereröffnung des JMF und das besorgniserregende Klima des rassistischen und antisemitischen Wiederauflebens

Das JFM ist das älteste kommunale jüdische Museum in Deutschland. Am 9. November 1988 eröffnete Bundeskanzler Helmut Kohl das Museum im Rothschild-Palais anlässlich des 50. Jahrestages des Novemberpogroms. 1992 kam ein zweiter Standort hinzu, das Museum Judengasse. Im Moment befindet sich das Rothschild-Palais im Umbau, sollte aber im Herbst wieder geöffnet werden.

Das Jüdische Museum Frankfurt Judengasse ist seit dem 5. Mai wieder geöffnet, allerdings gibt es Richtlinien für den Museumsbesuch, die finden sie hier.

Am 02.06 um 19 Uhr gibt es die Vernissage der Online-Ausstellung zum 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki auf Google Arts & Culture

Am 2. Juni wäre Marcel Reich­Ranicki 100 Jahre alt geworden. Wir widmen dem bekanntesten Literaturkritiker der Bundesrepublik Deutschland aus diesem Anlass eine Online­Ausstellung. Die Ausstellung bietet einen Einblick in die umfangreiche Sammlung von Schriftstellerporträts und ­karikaturen, die Marcel Reich­Ranicki dem Jüdischen Museum 2003 geschenkt hat und die eng mit seiner Lebensgeschichte verbunden ist.

Mirjam Wenzel, Direktorin des JMF und Pionierin digitaler Museumsstrategien in Deutschland, beantwortete freundlicherweise unsere Fragen, trotz eines vollen Terminkalenders aufgrund des Krisenmanagements des Museums im Zusammenhang mit Covid-19.

Sie interessieren sich seit langem für die Digitalisierung von Kulturgütern und insbesondere für den digitalen Zugang zu Museen. Woher stammt dieses Interesse?

Das hat mit dem kulturellen Kontext zu tun, in dem ich mich um die Jahrtausendwende in Berlin bewegt habe: dem Beginn des dortigen Diskurses und der Experimente mit digitalen Medien. Die erste Ausstellung, die ich kuratiert habe, war das Medienkunstfestival novalog, das 2001 in Tel Aviv und Berlin stattfand. Damals begann ich, den digitalen Wandel als transnationales Thema zu verstehen, das nicht nur unser Verständnis von Gegenwart, sondern auch die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend prägen wird. 2017 übernahm ich dann die Leitung der damals einzigen digitalen Abteilung an einem deutschen Museum, die Medienabteilung des Jüdischen Museums Berlin. In der Folgezeit habe ich die Entwicklungen der angloamerikanischen Museen in diesem Bereich genauestens verfolgt, um adäquate Strategien für den digitalen Wandel an einem deutschen Museum zu entwickeln. Schon bald wurde mir klar, dass diese nicht von einer Abteilung allein umgesetzt werden können, sondern eine organisatorische Transformation nach sich ziehen müssen. Bis heute bin ich der Überzeugung: Digitaler Wandel an Museen bedeutet, alle wissenschaftlich, vermittelnd und kommunikativ arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon zu überzeugen, nicht nur an den sozialen Raum der Museumsarbeit vor Ort zu denken, sondern auch den digitalen Raum mitzugestalten. Und das bedeutet auch und vor allem: sich für die Besucher*innen zu interessieren, die uns vor Ort und online besuchen, ihre Interessen zu erforschen und sie in die eigene Arbeit einzubeziehen.

— Prof. Dr. Mirjam Wenzel Direktorin Jüdisches Museum Frankfurt
Foto mit freundlicher Genehmigung JMF

Die Covid-19-Krise hat Ihnen Recht gegeben: Noch nie zuvor wurde das Angebot von Museen, die ihre Sammlungen ganz oder teilweise ausgestellt haben, so gut angenommen. Das JMF hat vier Online-Ausstellungen: Wissen Sie, ob sie viel öfter als gewöhnlich besucht wurden und woher kamen die Besuche?

Drei unserer Online-Ausstellungen sind auf der Plattform Google Arts & Culture zu finden. Sie präsentieren unser Museum Judengasse, das post-expressionistische Werk des Malers und Schriftstellers Ludwig Meidner sowie die Geschichte der Familie von Anne Frank aus Frankfurt. Zum 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki am 2. Juni werden wir hier eine weitere Ausstellung über die Schriftstellerporträts des Literaturkritikers und die Zeichnungen seiner Frau Teofila Reich-Ranicki veröffentlichen. Zudem zeigen wir eine biographisch angelegte Überblicksausstellung zu Ludwig Meidner auf der Online-Plattform „Künste im Exil“. Insgesamt fanden diese vier Online-Ausstellungen seit Beginn der Corona-Krise deutlich mehr Beachtung als zuvor, wurden in Teilen zum ersten Mal in Zeitungen rezensiert oder auf Social Media geteilt.
Im Allgemeinen kommen etwa ein Drittel unserer Online-Besucherinnen und –Besucher aus nicht-deutschsprachigen Ländern; das scheint sich während der Krise nicht geändert zu haben. Was sich hingegen änderte, war das Interesse. Wir haben beobachtet, dass das Interesse an den Online-Ausstellungen und –Führungen im März besonders gross war und danach ein wenig zurückging, während die Reichweite unserer Social Media-Beiträge auf Facebook, Twitter und Youtube so wie unserer Blogposts während der Krise kontinuierlich um 50%, in Teilen sogar um 100% höher war als zuvor. Besonders gut angenommen wurden partizipative Initiativen – wie etwa eine Online-Befragung, die wir unmittelbar vor der Wiedereröffnung unseres Museums Judengasse durchgeführt haben, um herauszufinden, welchen Umgang mit interaktiven Anwendungen und Hands On-Stationen in der Ausstellung unsere Besucherinnen und Besucher unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie bevorzugen.

Wie werden Entscheidungen darüber getroffen, was digitalisiert wird – oder digitalisiert werden kann? Haben rechtliche Erwägungen Vorrang oder sind es künstlerische und/oder pädagogische Erwägungen?

Digitalisierungen von Sammlungsobjekten oder –konvoluten sind komplexe Vorgänge: zunächst müssen die zu digitalisierenden Gegenstände, Gemälde oder Dokumente restauriert, dann unter optimalen Lichtbedingungen fotografiert, beschrieben, vermessen, nach standardisierten Kriterien in die Datenbank eingetragen und dort mit Schlagworten für die weitere Nutzung versehen werden. Unsere Kuratorinnen und Kuratoren sowie studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mit diesem Vorgang pro Objekt oder Konvolut von Dokumenten nach der Restaurierung mindestens 2 Stunden beschäftigt. Bei Objekten, deren Dokumentation äußerst lückenhaft ist, kommt die Erforschung der Provenienzen hinzu, die noch sehr viel zeitaufwändiger, aber für die Rechteklärung unerlässlich ist. Aufgrund dieses Aufwands digitalisieren wir vor allem in Zusammenhang mit anderen Prioritätsprojekten des Museums, wie etwa Ausstellungen. Dementsprechend wird die Online-Präsentation unserer Sammlung, die im Sommer live gehen soll, zunächst vor allem jene digitalisierten Objekte aus unserer Sammlung umfassen, die wir in unseren beiden Dauerausstellungen im Museum Judengasse und im Rothschild-Palais zeigen.

Während der Schliessung des Museums haben Sie auch Ihr digitales Angebot verstärkt, um mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu bleiben. Wie war die Resonanz? Werden diese Angebote auch in Zukunft fortgesetzt?

Unsere Aufgabe als Gedächtnisorganisation besteht darin, zu einem multiperspektivischen Verständnis der aktuellen Situation beizutragen. Deshalb haben wir seit Beginn der Krise eine Reihe von Beiträgen zur jüdischen Geschichte des Umgangs und der kulturellen Bewältigung von Katastrophen, Epidemien und Seuchen sowie zu den jüdischen Reinheits- und Hygienevorstellungen verfasst. Darüberhinaus haben wir eine digitale Dialogserie, unseren tachles-Videocast entwickelt, in dem ich mich mit verschiedenen Persönlichkeiten über Aspekte der derzeitigen Krise und Krisen im Allgemeinen unterhalte. Alle diese Angebote wurden sehr dankbar aufgenommen.
Eine besonders schöne Erfahrung war unsere erste Live-Streaming-Veranstaltung, in der ich im Gespräch mit Delphine Horvilleur die deutschsprachige Übersetzung ihres Buchs „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ (Réflexions sur la question antisémite ) vorgestellt habe. Noch heute erreichen mich begeisterte Mails zu diesem englischsprachigen Gespräch, durch das viele zum ersten Mal die liberale Rabbinerin erlebt haben, deren intellektuelle Brillanz bislang vor allem in der französischsprachigen Welt bekannt zu sein scheint. Wir haben aufgrund dieser Rückmeldungen nun entschieden, herausragende Veranstaltungen auch in Zukunft aufzuzeichnen und online zugänglich zu machen.
Die meisten unserer dezidiert zur Krise entwickelten Beiträge werden nun, da unser Museum Judengasse wieder geöffnet ist, keine Fortsetzung finden. Dafür beginnen wir im Juni neue digitale Formate – etwa die Videoreihe „Zukunftsmusik“, in der Kolleginnen und Kollegen einzelne Räume unseres neuen Museums vorstellen, oder den Podcast „Mekorim“, der jüdische Schriften aus unseren Dauerausstellungen zum Sprechen bringen wird.

Das Jüdische Museum im Rothschild-Palais befindet sich im Umbau und soll im Herbst in erweiterter Form wiederöffnen: wird es möglich sein, den Termin zu halten?

Die Bauarbeiten wurden während der Corona-Krise fortgeführt und der neue Lichtbau von staab Architekten sowie das renovierte Rothschild-Palais sind nun beinahe fertig gestellt. Ich gehe daher davon aus, dass wir unser neues Jüdisches Museum wie geplant in der zweiten Oktoberhälfte eröffnen können. Auf dem Weg dorthin gibt es allerdings noch diverse Unwägbarkeiten, die insbesondere mit der Schliessung der Grenzen und den Corona-Massnahmen in anderen Ländern zu tun haben. Unsere Ausstellungsmöbel etwa müssen in Rumänien fertiggestellt und unsere Leihgaben aus New York, London und Jerusalem in unser neues Museum transportiert werden.

— Jüdisches Museum Frankfurt Visualisierung der Architekten
Foto mit freundlicher Genehmigung JMF (© Staab Architekten)

Was erwartet die Besucher?

Die Besucherinnen und Besucher erwartet dort: eine permanente Ausstellung auf drei Etagen im Rothschild-Palais, die jüdische Geschichte und Kultur Frankfurts von der Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart vermittelt – etwa mit Gemälden von Moritz Daniel Oppenheim (wir sprachen über den Maler in Hayom 73 auf Französisch; Anm. d. Verf.) oder Dokumenten und Gegenständen aus dem Besitz der Familien Frank und Rothschild sowie interaktiven Hands On- und Medienstationen und Mehrkanal-Videoinstallationen. Unsere erste Wechselausstellung in den neuen Räumlichkeiten wird sich mit der „weiblichen Seite Gottes“ befassen und einen kulturgeschichtlichen Bogen von den Göttinnen des Alten Orients über die Schechina auf der einen und die christliche Vorstellung der Mutter Gottes auf der anderen Seite bis hin zur zeitgenössischen Kunst spannen. In dem neuen Lichtbau befinden sich ferner ein milchig koscheres Deli, ein Shop der jüdischen Literaturhandlung, ein Veranstaltungssaal mit einem Flügel aus dem Besitz der Familie Rothschild sowie eine öffentlich zugängliche Bibliothek, die mit Büchern und Nicht-Buchmedien sowie eigenen Veranstaltungen insbesondere Jugendlichen und Familien ein attraktives Angebot machen will.

Für die 75. Ausgabe von Hayom habe ich Jens-Christian Wagner und Igor Levit interviewt, die beide über das Wiederaufleben des Antisemitismus in Deutschland und/oder die Relativierung der während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen alarmiert sind, im Zusammenhang mit einem schädlichen politischen Klima durch eine rechtsextreme Partei – die AfD um es nicht zu nennen. Spüren Sie auch im Museum diese Entwicklung – Herr Wagner sprach über ein verändertes Verhalten von Besuchern der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen?

Natürlich sind wir als eine als ‚jüdisch’ wahrgenommene Kultureinrichtung von diesen Entwicklungen betroffen – auch wenn wir eigentlich ein kommunales Museum sind. Uns wurden schon mehrfach die Scheiben eingeschlagen und wir haben mit mutwilligen Beschädigungen an den von uns mitverantworteten Gedenkorten zu tun – allesamt Straftaten, die es in dieser Form und Häufung vor 2015 nicht gegeben hat. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle (die am 9. Oktober 2019 zwei Tote und zwei Schwerverletzte gegeben hatte und auch ein türkisches Restaurant zum Ziel hatte; Anm. d. Verf.) hat sich die Situation noch einmal verschärft: unser Museum Judengasse steht nun unter Polizeischutz.
Zugleich erfahren wir seither auch sehr viel Zuspruch. In der Woche nach dem Anschlag sind so viele Personen in unseren Förderverein eingetreten wie noch nie und auch von politischer Seite wird unsere Arbeit aufmerksam begleitet und unterstützt. Mein Eindruck ist deshalb, dass viele Verantwortungsträger in Deutschland den ansteigenden Antisemitismus mit Sorgen beobachten und etwas dagegen tun wollen, im Allgemeinen nur nicht so recht wissen, was sie tun können.

Welche Hebel  – politische, bürgerliche, mediale und/oder andere –  sollten Ihrer Meinung nach bearbeitet werden, um die Gefahr des Wiederauflebens des Antisemitismus, der in der westlichen Welt ein globales Problem zu sein scheint, einzudämmen?

Zunächst einmal müssen auf Grundlage der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance in allen Mitgliedsländern Rechtsmittel erarbeitet werden, um antisemitische Äusserungen und Taten – sowohl im physischen Raum wie auch im Internet – als solche zu ahnden. Damit dies dann auch geschieht, sollte das Personal, das in Sicherheitsbehörden, in der Justiz, in den Schulen, den Jugendzentren und der Erwachsenenbildung arbeitet, Fortbildungen erhalten, damit es lernt, antisemitische Äusserungen und Gewalttaten zu erkennen und ihnen entschieden entgegen zu treten. Wichtig ist dabei, dass Antisemitismus nicht als ein isoliertes Phänomen betrachtet wird, da wir aus allen Studien wissen, dass er zumeist zusammen mit anderen Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auftritt, insbesondere mit Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Rassismus. An diesem Punkt muss die Bildungsarbeit ansetzen und die zivilgesellschaftliche Verantwortung für eine diverse und offene Gesellschaft gestärkt werden.

Und wie sehen Sie in dieser Angelegenheit die Rolle des JMF?

Wir haben in Reaktion auf die Entwicklungen der letzten fünf Jahre am Jüdischen Museum Frankfurt einen neuen programmatischen Schwerpunkt in unserer Bildungsarbeit aufgebaut, der weitgehend ausserhalb unseres Museums stattfindet: unsere Outreach-Programme „Anti Anti: Museum goes School“ und „Wahrheiten und Narrheiten“. In einem Fall handelt es sich um ein primärpräventives Bildungsprogramm, das Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen ein halbes Jahr lang in ihrer Persönlichkeitsbildung begleitet und zur Selbstreflexion anhalten soll. Das andere Programm verfolgt einen interkulturellen Ansatz und entwickelt im Rahmen einer Projektwoche mit Kindern im Grundschulalter ein Schattentheaterstück, das verschiedene religiöse Traditionen miteinander verbindet. Wir wollen mit diesen beiden Programmen, wie auch mit unserer Bildungsarbeit im Museum selbst, Kindern, Jugendlichen, Schülerinnen und Schülern einen Erfahrungshorizont eröffnen, der zu einer Stärkung von Empathie, wechselseitiger Verständnisbereitschaft und Respekt in einer diversen Gesellschaft führt.

Malik Berkati

https://www.juedischesmuseum.de

Dieser Artikel ist eine Koproduktion von Hayom und j:mag. In Hayom Ausgabe 77 (Herbst 2020) finden Sie eine französische Version des Artikels.

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