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Das FilmFestival Cottbus 2019 (5.-10.11.) : Die wichtigsten Trends des jungen osteuropäischen Kinos

Die Hauptstadt der sorbischen Minderheit in Deutschland, die sich in Brandenburg in der Region Lausitz befindet, sollte historisch und geographisch auf das Zusammentreffen von Ost- und Westeuropa hinarbeiten.  Das ist es, was Cottbus seit 29 Jahren mit diesem internationalen Filmfestival, einem der besten in seiner Spezialisierung auf osteuropäische Kinos, wunderbar macht – mit Filmen aus Mitteleuropa bis dem fernen Osten und Ostasiens (z.B. Mongolei).

Bemerkenswert ist die Entwicklung des FCC, das ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer geboren wurde: Von einem kleinen Festival, das von leidenschaftlichen Freiwilligen organisiert wurde und einen kulturellen Weg von Ost nach West öffnen wollte, ist das FFC zu einem unverzichtbaren Festival geworden, für diejenigen die die Qualität und Vielfalt der Kinos in Osteuropa lieben oder entdecken wollen!

In vier Wettbewerben und elf weiteren Sektionen zeigt das FFC fast 200 Filme, die um ein Preisgeld von circa 80.000 Euro und die begehrte Preisskulptur Lubina (sorbisch: die Liebreizende) konkurrieren. Besonderes cineastisches Augenmerk legt das FFC in diesem Jahr dabei auf Montenegro, Ungarn und Niederschlesien. Ausserdem beleuchten drei jahrgangsspezifische Filmreihen den Umgang mit dem Erbe sozialistischer Architektur, die Auseinandersetzung im osteuropäischen Film mit der hochaktuellen Thematik der Migration sowie den 30. Jahrestag des Mauerfalls.

Im Zentrum der Werke: Menschen unter Druck, Wutbürger auf Adrenalin, die genug haben und aufbegehren –  Einzelkämpfer aller Altersklassen gegen Konventionen und Gentrifizierung, Korruption und rechtsextreme Netzwerke, die eigene Familie und den starken Staat. Und dabei auch immer ein Stück gegen sich selbst.

Bernd Buder, Programmdirektor des FilmFestival Cottbus:

„2019 prägen die Arbeiten vieler junger Regisseure den Wettbewerb des FilmFestival Cottbus. Die gehen ihre Themen ohne Umwege an, bisweilen genauso direkt wie ihre Protagonisten, die sich gegen den Stress wehren, der auf ihnen lastet. Zwischen Polit-Thriller und ironischen Untertönen kommen Biografien von Menschen auf die Leinwand, die zuweilen sehr stürmisch auf Gerechtigkeit drängen. Doch die hat viele Seiten – und so ist es mit einem einfachen Dagegensein nicht getan. Das osteuropäische Kino bleibt seiner Tradition treu, besonders genau hinter die Kulissen zu blicken, Widersprüche zu verhandeln und dabei auch mal schnell die Tonlage zu wechseln.“

Sektion REGIO: Lower Silesia

Mit REGIO: LOWER SILESIA widmet sich das Festival in diesem Jahr der Regionalgeschichte Niederschlesiens. Seit 1945 wurden in Breslau/Wrocław und in der Region über 400 Kinofilme produziert. Besonders in den letzten Jahren boomt das Kino in und aus Niederschlesien. Das Festival zeigt ein spannendes Geflecht aus Spiel- und Dokumentarfilmen, Archivmaterial und Filmen der Off-Szene, die die Zuschauer mit einer kulturpolitischen und geschichtlichen Landschaft vertraut machen.
Das Kino aus Niederschlesien ist auch eine einzigartige Gelegenheit, Europas Geschichte der letzten 70 Jahre zu verstehen und den kulturellen sowie sozialen Wandel einer Region zu erleben. Lange nach dem Zweiten Weltkrieg war die Wahrnehmung von Schlesien durch ein verzerrtes Wunschbild oder eine vom Schmerz der Vertreibung überschattete Vergangenheit geprägt. Erst in den 1960er Jahren trauten sich Filmemacher, abseits von Propagandastreifen und der staatlich reglementierten Narration die Geschichte Niederschlesiens zu erzählen. Filme wie Jerzy Hoffmans Das Gesetz und die Faust, Siegfried Kühns Kindheit oder Ein Jahr der Ruhenden Sonne von Krzysztof Zanussi zeigen ein differenziertes Bild der Region. Sie erzählen deutsch-polnische Geschichte auf höchstem filmischen Niveau – mal poetisch, mal schonungslos. Dokumentationen wie Der Hirtenbrief komplettieren die Spielfilmreihe.

Highlights des Programms

„Das Ende des sogenannten Eisernen Vorhangs war der Anfang für das FilmFestival Cottbus, das sich seit 1991 zu einem der weltweit führenden Festivals des osteuropäischen Films entwickelt hat. Die Filme der nunmehr 29 Jahrgänge spiegeln seither auch die gewaltige Transformation in den osteuropäischen Staaten. Sie nehmen uns mit in die Lebenswirklichkeit vor Ort. Und lassen uns über ihre Charaktere fühlen, was der Wandel für jede und jeden Einzelnen bedeutet“

hat Olaf Scholz, Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen, Schirmherr des 29. FilmFestival Cottbus, gesagt.

Diese Lebenswirklichkeit und den Wandel zeigt insbesondere der Wettbewerb Spielfilm des 29. FFC – an den ungewöhnlichsten Orten, mit viel Gefühl und mittels einer Vielzahl von Genres.

 

Knallbunt, im Stummfilmformat, frech und subversiv kommt die Coming-of-Age-Geschichte Topal Şükran’ın Maceraları (Die Abenteuer von Sukran der Lahmen) von Onur Ünlü daher. Der erste türkische Wettbewerbsbeitrag in der Geschichte des FFC fordert heraus: Nach einem Unfall muss Sukran ihr noch junges Leben mit einem steifen Bein meistern. Doch davon lässt sie sich nicht  unterkriegen, träumt von Liebe, körperlicher Nähe und Geborgenheit. Aber immer wieder geht etwas schief und endet auch mal tödlich.

Das Frauenportrait Schwester (Bulgarien, Katar), der zweite Spielfilm von Svetla Tsotsorkova, besticht durch eine eindrucksvolle Bildsprache. Um ihrem langweiligen Alltag zu entfliehen, erzählt darin die junge Rayna vorbeikommenden Touristen, ihre Familie wäre brutal von der Mafia ermordet worden und andere abenteuerliche Lügenmärchen. Bis der Freund ihrer grossen Schwester eingesperrt wird. Rayna eilt ihm zur Hilfe und erfährt dabei einiges über ihre Mutter, was lieber ungesagt geblieben wäre.

Tragikomisch geht es bei Min urduber kyun khahan da kiirbet (Die Sonne über mir geht nie unter) von Lyubov Borisova (Russland) auf einer jakutischen Insel in der Laptevsee zu. Von seinem Vater zum Fuchsfarmhüten dorthin geschickt, trifft der junge YouTuber Altan  auf den alten Einsiedler Baibal, der glaubt, bald sterben zu müssen.

Antonio Lukichs skurrile Komödie Moyi dumky tykhi (Die Gedanken sind frei, Ukraine) begleitet Vadim, der Tierstimmen für ein Videospiel sammelt und auf der Suche nach dem Gesang eines seltenen Vogels ausgerechnet von seiner anhänglichen Mutter begleitet wird.

Piotr Ryczko balanciert im dystopischen Psycho-Drama Jestem Ren (Ich bin Ren, Polen) zwischen Horror und Science-Fiction. Protagonistin Renata ist Mutter und Ehefrau – oder doch ein REN, ein Regenerative Emotive Neuro-Being? Die Service-Agentur stellt eine Fehlfunktion fest, die Abstellung droht. Noch ist Hoffnung da, doch ist die Familientherapie nicht schon finaler Besuch beim Techniker?

Jestem Ren (Ich bin Ren) von Piotr Ryczko
Foto mit freundlicher Genehmigung von FilmFestival Cottbus

Lendita Zeqiraj verschafft mit ihrem Film Shpia e Agës ( Agas Haus; Kosovo, Kroatien, Frankreich, Albanien) den Schicksalen von Frauen und Kindern Gehör: Nach dem Kosovokrieg leben fünf Frauen in der Einöde, abgeschnitten von männlichem Einfluss. Tragik und Traumata enthüllen sich erst nach und nach. Der neunjährige Aga – einziger Mann im Haus – sucht nach einer Vaterfigur.

Neben Fullmoon von Nermin Hamzagić (Bosnien und Herzegowina) ist die zweite Weltpremiere im Wettbewerb Spielfilm das Spielfilmdebüt Gori (Das Schwein) von Giga Liklikadze aus Georgien. Dieses Sehnsuchtsland vieler Reisender zeigt der Regisseur abseits der Touristenströme, wo der junge Bachana ziellos umherstreift und in die Hände zweier Kleinkrimineller gerät. Die wollen 100 Euro für seine Freilassung von seiner Familie erpressen, die kann jedoch nur ein Schwein anbieten.

Mit der Weltpremiere von Das Märchen von den 12 Monaten, das nach Motiven von Josef Wenzig unter der Regie von Frauke Thielecke für die Märchenreihe „Sechs auf einen Streich“ entstand, läutet ein Highlight den FFC-Familiensonntag am Vormittag ein. Die ARD strahlt das Märchen mit Nina Kaiser, Jascha Rust und Christoph Bach in den Hauptrollen in seinem Weihnachtsprogramm aus. Nach Filmende folgt das Kinderfest in der Stadthalle, ehe mit Bille von Regisseurin Ināra Kolmane der erfolgreichste lettische Film des Jahres das diesjährige Kinderfilmprogramm abrundet. Darin würde sich Titelheldin Bille gerne aus dem Riga der 1930er-Jahre wegträumen.

Im Anschluss an die Preisverleihung am Samstag, 9. November 2019, zeigt das FFC die polnische Einreichung für den Auslands-Oscar 2020: Boże Ciało (Corpus Christi) von Jan Komasa. Ein schwer erziehbarer Jugendlicher kleidet sich in ein Priestergewand, versöhnt mit seiner unorthodoxen Auffassung von christlicher Mission ein zerstrittenes Dorf und setzt – nicht ohne Opfer – ein Zeichen der Hoffnung.

Alle Wettbewerbs- und weitere Sektionen des FFC .

 „Dieses Mitfühlen, das Einanderzuhören halte ich angesichts des zunehmenden Populismus’, der auf eine gesellschaftliche Spaltung hinwirkt, für besonders wichtig. In Deutschland, über die Grenzen nach Osteuropa hinweg und in ganz Europa. Die Filme dieses 29. Festival-Jahrgangs werden dazu ihren Beitrag leisten“

hat Schirmherr Olaf Scholz betont.

Eine Stunde und zwanzig Minuten mit dem Zug von Berlin entfernt, die Reise nach Cottbus lohnt sich wirklich!

Malik Berkati

vom 5. bis 10. November 2019 http://www.filmfestivalcottbus.de/de/

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